Der Patientenflüsterer



Prinzipien 4Der Patientenflüsterer
Text 39

Der Patientenflüsterer

Einleitung

Sie haben es erraten: Der „Patientenflüsterer“ spielt auf den legendären Film Robert Redfords „Der Pferdeflüsterer“ an. Dieser Streifen – den ich Ihnen übrigens sehr empfehle, abgesehen von einer etwas depperten Romanze als Rahmengeschichte – zeigt mit grosser Eindrücklichkeit und fundierter Realitätsnähe, wie ein Cowboy ein schwer traumatisiertes Pferd allein mit tiergerechter Kommunikation erfolgreich behandelt. Was dies konkret mit Hypnosetherapie zu tun hat, verrate ich noch nicht.

Seit meinem zwölften Lebensjahr, als ich von meiner Mutter zum ersten Mal auf den Rücken eines Pferdes gesetzt wurde, lässt mich dieses Tier nicht mehr los. Es entwickelte sich daraus mit den Jahren sogar eine Passion für das Dressurreiten1, die nicht aufhörte zu wachsen. In den letzten Jahren meiner Berufstätigkeit stand ich mehrmals wöchentlich in der Morgenfrühe auf, ab aufs Pferd, und ging erst dann zur Arbeit in die Praxis.

Diese Morgenstunden erwiesen sich als besonders inspirierend, insbesondere weil ich von Natur aus nicht mit morgendlicher Geistesfrische gesegnet bin. Dieses Handicap öffnet aber im Gegenzug immerhin geheime Türen für alle Formen von Trance, ganz besonders für «hippnotische» Trancen. Auf meinem Pferd sitzend verwischten sich die Grenzen auf natürliche Weise zwischen meiner inneren Reiterwelt und meiner inneren Psychotherapeutenwelt, und die scharfe Trennung zwischen ihnen wurde durchlässiger. Natürlich wusste ich immer um die Unterschiede zwischen Patienten und Pferden. Und da kam mir eine angeborene Neigung zu Hilfe, nämlich die, wie unter Zwang zwischen allen möglichen Dingen, die zunächst nichts miteinander zu tun haben, Zusammenhänge zu konstruieren. So formten sich mit der Zeit erste Erkenntnisse zu Gemeinsamkeiten zwischen dem Arbeiten beim Reiten und dem mit Patienten. Solche unmittelbar in meiner Reiteraktivität entstandenen Parallelen werden hauptsächlicher Gegenstand der ersten Texte zum «Patientenflüsterer» sein.

Mein Weg ging weiter – und vom Dressurreiten führten mich zunächst Lektüren und YouTube-Filme zu einem wachsenden Interesse für die Bodenarbeit2  mit Pferden. In diesen Zusammenhang fiel das späte Entdecken des oben erwähnten Hollywood-Films „Der Pferdeflüsterer“. In der Bodenarbeit kommen keinerlei Zwangs- oder Druckmassnahmen zum Einsatz, kein Gewicht eines Reiters, keine Trensen, Sporen oder Gerten, auch kaum direkte Berührungen. Bodenarbeit ist ein Spiel mit möglichst präzis und feinfühlig eingesetzten Kommunikationselementen der Pferdesprache. Gewissermassen angewandte Ethologie. So faszinierten mich die Videofilme ungemein, die im Internet über die Dressurarbeit der Brüder Frédéric und Jean-François Pignon zu finden waren. Der Gedanke, mit dem Pferd mit dem gleichen Respekt zu begegnen wie mit einem Patienten – und umgekehrt – war für mich äusserst einladend und gar nicht so weit hergeholt. Bei beiden geht es ja um das Aktivieren von Ressourcen. Dann begegnete mir – auch auf YouTube – die geniale Arbeitsweise des unorthodoxen Pferdemenschen Klaus Ferdinand Hempfling, die mir die Augen auf die unglaublich eindrücklichen Parallelen der Behandlung von Pferden und Menschen öffnete. Sein Zugang zeigte mir noch ganz neue Horizonte, nicht nur zum Verständnis wie ein Pferd tickt, sondern auch allgemein in Bezug auf die Kommunikation zwischen Mensch und Tier – und schliesslich auch unter Menschen. Davon dann in späteren Texten.

Die Ethologie allgemein hatte mich gepackt, und das Feld meiner Interessen spannte sich ganz natürlich auf. Bald bezog es die mit Affen ein, um schliesslich auch den Menschen Einzug zu erlauben. Und dann begann mir allmählich etwas vom Wichtigsten, was für mich die Hypnose ausmacht, zu dämmern. Doch davon erst später. Der „Patientenflüsterer“ wird in einer Serie von Texten diesen Werdegang zu spiegeln versuchen. Als erstes Thema für heute komme ich zurück auf den Anfang, an den Ort, wo sich meine ersten Ideen herauskristallisierten, nämlich im Sattel.

Meine ersten Erkenntnisse auf dem Pferd

1.1 Eine erste, harte Einsicht: Die Machtverhältnisse

Die schmerzliche Erfahrung, in die sich jeder Reiter von der ersten Sekunde an hineinschicken muss – bitter für die Eitelkeit, manchmal aufgrund der Gravitation auch körperlich schmerzvoll… : Das Pferd unter ihm ist ein gewaltig Riesending, unendlich viel stärker und viel schwerer als er, und zudem macht es, was es will. Da helfen kein Reissen und kein Zerren, um das Pferd in eine vom Reiter geplante Bewegung zu zwingen, wenn dieses sich mit seiner Muskelkraft sperrt. Schon nur die Position des Reiters auf dem Rücken des Täters ist so instabil, ungemütlich und ungünstig, um mit Kraft etwas erzwingen zu können, dass jeder Versuch in diese Richtung zum Scheitern verurteilt ist. Ausserdem verleiht das überlegene Gewicht dem Pferd eine physikalische Trägheit, die sich nicht mit brachialer Kraft besiegen lässt. Wenn sich im Gegenteil seine Kraft entfesselt, hält ihn auch keine menschliche Muskelkraft zurück. 

Wer einmal auf einem Pferd sass, das richtig durchgebrannt ist, vergisst dieses totale Ausgeliefertsein nie mehr, für sein ganzes Leben!

Die Gewichts- und Kraftverhältnisse stehen also für den Reiter hoffnungslos ungünstig. Dagegen hat sich der Mensch im Laufe der Geschichte zahlreiche Zwangsanwendungen gegen den Freiheitswillen des Pferdes einfallen lassen, von quälenden, scharfen Gebissen über spitze Sporen, Schläge, Fesselungen. Doch wenn sich das Pferd dann unterwarf, geschah es nur aus Angst vor Schmerz, nie freiwillig. Diese Vorgehensweise macht aber ein Tier nur unwillig und steif, und von Dressur als einem Zusammen, einem ästhetischen, harmonischen Tanz zu zweit, kann nicht die Rede sein.

Wenn ich mit einem willigen, freien Tier zusammenarbeiten möchte, das zehnmal schwerer und hundertmal stärker ist als ich – und zudem nicht einmal darauf angewiesen ist, mich auf seinem Rücken zu tragen – da muss ich mir etwas einfallen lassen, das nicht auf physischer Kraft aufbaut. Vielleicht eher auf Schlauheit? Schliesslich bin ich als Mensch mental anpassungsfähiger als ein Tier… Fähigkeiten wie Intelligenz, Feinfühligkeit und Freude am Motivieren einzusetzen ist sicher erfolgversprechender als zu versuchen, irgendetwas mit nackter Autorität oder Gewalt zu erstreiten. Wer auf dem Pferd sitzend auf seine brachiale Kraft zählt, um sich durchzusetzen, lebt jedenfalls gefährlich. Sich dessen ständig bewusst zu bleiben ist also mehr als nur ratsam!

Eines Morgens, über solche Dinge während des Ausklangs der Reitstunde meditierend, pendelten meine Gedanken hin und her zwischen dem Pferd unter mir und den Begegnungen, die mich in der Praxis erwarteten. Es begannen interessante Parallelen zu dämmern.

Die genannten Parallelen bezogen sich natürlich nicht auf den spezifischen, therapeutischen Umgang mit übergewichtigen Patienten oder mit Bodybuildern… Vielmehr ging es um die allgemeinen Bedingungen, wie in beiden Situationen die Macht zwischen den jeweiligen Kontrahenten verteilt ist: So wie es in der Reithalle klar zu sein scheint, dass der Reiter der Mächtige ist, der das Pferd unterworfen hat und ihn nach seinem Willen lenkt, so sieht auch – zumindest von aussen und auf den (aller)ersten Blick – die Situation im Sprechzimmer des Hypnosetherapeuten aus: Der Patient liegt regungslos und ausgeliefert da und hört sich folgsam die Instruktionen des Mächtigen an. Dieser ist der Mächtige, weil er schliesslich die Verantwortung trägt und über das „Wissen“ für die Lösung verfügt (er hat es bekanntlich studiert). Er führt als Kapitän mit sicherer Hand das Steuer der Therapie durch die stürmischen Fluten der Therapie. Wer als Therapeut an dieses Bild glaubt, lebt gleich gefährlich wie der Reiter, der an seine Muskelkraft glaubt…

Die Realität liegt ganz woanders. Als Therapeuten allgemein und speziell als Hypnosetherapeuten stehen wir einer Macht gegenüber, gegen die wir letztlich chancenlos sind, wenn wir gegen sie ankämpfen wollen: das Unbewusste des Patienten. Ein Unbewusstes ist ein komplexes Riesending. Es besteht zunächst aus einer Biologie, der wir mit psychologischen Mitteln kaum beikommen können, allenfalls mit Medikamenten. Überdies flechtet sich in diese Biologie noch eine Epigenetik ein, über die Einflüsse anderer Generationen zum Wirken kommen. Dann arbeitet im Unbewussten eine unüberschaubare Anzahl Prägungen aus einer ganzen Lebensgeschichte mit (Wie viele Stunden hat der Patient vor der Therapie ohne uns gelebt? Man rechne: Alter des Patienten in Jahren mal dreihundertfünfundsechzig Tage mal vierundzwanzig Stunden… und stelle dies der Anzahl Therapiestunden gegenüber, in denen wir allenfalls Einfluss auf sein Unbewusstes nehmen können.). Von all diesen Prägungen erfahren wir nur diejenigen, die uns der Patient erzählt, d.h. nur diejenigen, die in sein aktuelles Narrativ über sich selber passen, mit unterschiedlichem historischem Wahrheitsgehalt. Alle anderen Prägungen sind mit gutem Grund verdrängt worden und bleiben mehrheitlich unzugänglich. Ferner verfügt dieses Unbewusste über eine geheimnisvolle Eigendynamik, die ebenso hartnäckige Stagnationen produzieren wie Stürme entfesseln kann. Auslöser des Einen wie des Andern verstehen, können wir immer erst im Nachhinein.

Der Versuch, einer Therapie mit Interventionen eine feste Richtung geben zu wollen, die dem vom Therapeuten geplanten Aufbau folgt, kommt dem Reissen und Zerren an den Zügeln des Pferdes gleich. Wie viele Male hatte ich in meiner Praxis nicht die Erfahrung machen müssen, dass auch die bestgemeinten, steuernden Interventionen (meine Empathie liess mich vielleicht mit dem Patienten mitleiden, und ich wollte ihn erlösen) wirkungslos blieben, wenn sie nicht ins aktuelle Konzept des Unbewussten des Patienten passten. Folglich bleibt nichts anderes übrig, als sich hineinzuschicken, dass die primären Machtverhältnisse definitiv nicht zu unseren Gunsten stehen (s.a. Text 17 «Hebelgesetz). Ein therapeutisches Ziel – oder auch nur ein Zwischenziel – nur minim höher stecken und schneller erreichen zu wollen als das Unbewusste des Patienten, und in Form von Argumenten, Aufgaben, Ermahnungen etc., eine vielleicht nur sanfte Form von Druck ausüben zu wollen, mag gelegentlich eine bewusste „compliance“ als Zeichen der Unterwerfung bewirken. Wir haben ihn aber nicht in seiner Tiefe erreicht und sein Problem wird sich so kaum wirklich lösen.

1.2 Dann die zweite Einsicht: der Ohrwurm «Treiben, treiben, treiben!»

Es war etwas vom Ersten, was mir – wie allen anderen Anfängern zumindest damals – eingepaukt wurde: «Treiben, treiben, treiben». Hiess: mit den Beinen mit aller Kraft irgendwie auf die Flanken des Pferdes eintrommeln, in der Hoffnung, dass es endlich etwas Gas geben möge. Angesichts der radikalen Trägheit der Schulgäule, die uns zugeteilt waren, leuchtete mir die Idee hinter dieser Aufforderung sofort ein und feuerte mich zu eifrigen Beinbewegungen bis zur Erschöpfung an. Doch die Wirksamkeit ihrer Umsetzung hielt sich in engen Grenzen. Vielmehr lernte ich einmal im Leben mehr, mit Frust umzugehen.

Das Prinzip war an sich richtig: Das Pferd muss immer in einem Vorwärtsdrang3  aktiviert sein, sonst kann nicht wirklich geritten werden, insbesondere nicht in der Dressurarbeit. Von Natur aus bewegt sich ein Pferd nur für Futtersuche, Flucht, Spass, soziale Interaktionen etc., aber nicht auf Druck von einem Paar artfremder Beine. Will man ein Pferd reiten – d.h. will der Reiter zusammen mit dem Pferd koordinierte Bewegungen ausführen – muss es zuerst künstlich (bzw. mit Kunst) in Bewegung gesetzt werden. Das Treiben, hauptsächlich also die Arbeit der Beine des Reiters, besteht darin, eine vorwärts gerichtete Bewegungsenergie in der Hinterhand4 des Pferdes zu produzieren und zu unterhalten, damit diese dann vorne, mit der Hand, den Zügeln, mit Feingefühl aufgefangen und gelenkt werden kann. Dies kann nicht mit fortwährendem Klopfen der Beine erreicht werden, denn Solches würde nur zu einer Abstumpfung des Pferdes führen. Treiben muss mit viel Feinheit moduliert werden: nicht zu viel, nicht zu wenig, und im richtigen Moment.

Zu diesem Phänomen des Treibens kursiert im Übrigen eine interessante Anekdote aus Ericksons Jugendzeit. Legende oder nicht, sie illustriert metaphorisch wunderschön die Bedeutung des Treibens bei einem Pferd. Da war plötzlich auf dem Bauernhof in Nevada, wo der kleine Milton aufgewachsen war, ein unbekanntes Pferd aufgetaucht, ohne Zaum und Sattel. Offensichtlich hatte es sich von irgendeiner Nachbarranch abgesetzt und war hier gestrandet. Aber von welcher? Die Distanzen zwischen den Bauernhöfen waren allesamt beträchtlich, und so war der Gedanke, sie abzuklopfen, um den Heimatstall des Pferds ausfindig zu machen, keine Option. Niemand auf dem Erickson’schen Hof konnte den vierbeinigen Gast irgendwohin zuordnen. Während die Erwachsenen konferierten und rätselten, was zu tun sei, schwang sich der kleine Milton auf das fremde Pferd und machte sich daran, nichts anderes zu tun, als mit seinen Beinen beharrlich immer wieder an dessen Flanken zu klopfen, um es gemütlich anzutreiben. Erwartungsgemäss setzte sich das Tier in gemächliche Bewegung, schlenderte vor sich hin, hie und da ein Gräschen fressend, wurde vom jungen Burschen aber fortwährend vorwärtsgetrieben. Nach mehreren Stunden kommen beide bei einer Ranch an und werden von den verblüfften Besitzern des Pferds empfangen. Magie oder natürlicher Stalldrang? Jedenfalls wurde das Wiedersehen nur möglich, weil der junge Milton mit seinen Beinen einfach für Bewegung gesorgt hatte.

Ich finde den Gedanken sehr attraktiv, auch meine Patienten immer zu «treiben» bzw. in Bewegung zu halten. Fern vom Gedanken, irgendeine Form von Erfolgsdruck zu generieren, bemühe ich mich, den inneren Antrieb des Patienten, seine «impulsion», zu fördern, damit gewissermassen sein Unbewusstes aktiviert bleibt (der Hinterhand des Pferdes entsprechend), und dann diese Bewegung vom Bewussten aufgenommen und gesteuert werden kann (entsprechend wie die Hand des Reiters). Also auch beim Patienten ist das Motto hilfreich: «Treiben, treiben, treiben», bestimmte anspornende Impulse geben, aber mit entsprechendem Taktgefühl wie beim Pferd, nicht zu viel, nicht zu wenig, und im richtigen Moment.

Worin besteht «Treiben» in der Therapie? Das sicherste Mittel, das wir als Therapeuten hierfür einsetzen können, ist unsere authentische, aber abstinente Neugier: Nachfragen, Explorieren, Interesse zeigen: «Ah? Spannend!». Immer in einer ermutigenden Atmosphäre aufgreifen, was sich zeigt, und es wohlwollend hinterfragen. Es darf dabei nicht darum gehen, dem Patienten zu zeigen, dass wir uns für ihn interessieren (an sich wäre dies nicht nur unbedingt falsch, aber oft missverständlich und könnte sich als Mitagieren erweisen), sondern eigentlich – und hier geht es um den Kern der Psychotherapie – soll unser Verhalten im Patienten die Neugier für sich selber wieder wecken, denn genau diese Neugier ist die wirkliche «impulsion», die Veränderungen bewirken kann. Ohne sie dümpelt eine Therapie vor sich hin…

Dies waren etwa meine ersten Erkenntnisse, und zumindest ich erlebte sie als anregend in meiner hypnosetherapeutischen Arbeit. Immer häufiger holte ich mir meine «Pferdebilder» hervor, um mich von ihnen in meinen Therapien zu inspirieren. Doch ich ritt weiter… und es kamen noch mehr Einsichten. Davon im nächsten Text.




-------------------

1 Für „Nicht-Kenner“: Dressurreiten hat nichts mit Drill oder Unterwerfung des Pferdes zu tun. Es geht vielmehr um ein Kommunizieren in der allgemeinen animalischen Sprache, die wir mit den Tieren – zumindest mit den Säugetieren – teilen.

2 Bei der Bodenarbeit bewegen sich Pferd und Reiter beide auf dem Boden und kommunizieren v.a. mit Körpersprache, Haltung und Stimme. Ein anderer Begriff dafür ist «Freiheitsdressur». Berühmt geworden ist sie v.a. im Zirkus und im Pferdshowbusiness. Doch nimmt sie auch in der Behandlung von traumatisierten oder ängstlichen Pferden einen wichtigen Platz ein.

3 Auf Französisch und Englisch gibt es im Reiterjargon den Ausdruck «impulsion», der den Schwung bezeichnet, der das Pferd aus innerem Impuls lebendig, geschmeidig und kraftvoll, im Gleichgewicht und losgelassen vorwärts gehen lässt.

4 Edlere Bezeichnung für die Hinterbeine des Pferdes.



Prinzipien 4Der Patientenflüsterer
Text 40

Der Patientenflüsterer Teil 2

Im vorherigen Text zeichneten wir erste Analogien zwischen dem Reiten und der Hypnosetherapie: Wie wir als Therapeuten auf einem riesigen, animalischen und ungleich viel stärkeren Wesen «reiten» – dem Unbewussten des Patienten – und weshalb wir lernen müssen, nicht Kraft, sondern Köpfchen einzusetzen. Und wie es auch gleichzeitig unsere Aufgabe ist, dieses Unbewusste in Bewegung zu versetzen und es dann kontinuierlich in Schwung zu halten. Nun folgt meine nächste «reiterliche» Einsicht zur Hypnose, die ihre Wurzeln schon in den Zeiten meiner Anfänge als Reiter findet. 

1.3 Dritte Einsicht: Fremdsprachen lernen… und erfinden

„Bitte, mein geliebtes Pferd, es würde mich unendlich freuen, wenn du jetzt unter mir eine Reihe schöner, fliegender Galoppwechsel1 vollführen könntest.“ Dass mein Pferd es dann tut, davon mag ich vielleicht für mich träumen – denn wer einmal dieses Gefühl des Schwebens und der vollkommenen Harmonie mit dem Pferd erlebt hat oder sich vorstellen kann, weiss, dass es nichts Vergleichbares gibt. Doch muss man kein erfahrener Reiter sein, um zu erkennen, wie absurd es ist, ein solches Anliegen – selbst so erlesen formuliert – einem Pferd verbal einflüstern zu wollen. Niemals wird es darauf eingehen. Da ist kein böser Wille und auch keine Opposition im Spiel, sondern ganz elementar: Sein Pferdehirn versteht meine Menschensprache nicht. Um die Idee eines Galoppwechsels zu kommunizieren gehört eine andere, eine gemeinsame Sprache her. Reiten lernen heisst weitgehend, eine solche Sprache zu erwerben.

Meine erste Reitstunde als Kind verlief in etwa so: Kaum erfolgreich in den Sattel hochgehievt, wurde ich angewiesen, meine Oberschenkel an das Pferd zu drücken, damit es sich in Bewegung setze. «Beine zusammendrücken» bedeutete offenbar «Ich möchte, dass du vorwärts gehst». Klang für mich nicht schwer verständlich, und ich tat mein Bestes, nur – es passierte überhaupt nichts. Völlig unberührt stand das Pferd bockstill. «Fester, Junge, fester!» kam es vom Reitlehrer, und ich presste meine Beine mit doppelter Kraft an seinen Rumpf – ohne Erfolg. Er wurde lauter: «Mit den Fersen klopfen!!» Ich klopfte mit den Fersen, steigerte die Drehzahl bis zum Trommeln, was mir aber nur einbrachte, akustisch die Resonanzkastenwirkung eines Pferdethorax festzustellen. Erst die vom Reitlehrer drohend erhobene Peitsche versetzte mein Pferd in eine zögerliche und auch nur zeitweilige Vorwärtsbewegung. Soviel hatte ich zur Natürlichkeit der «Mensch-Bein-Pferd-Sprache» gelernt. Auch sie war offensichtlich der menschlichen Sprache nicht sattelfest überlegen... Ganz entsprechend fraglich wirksam erwies sich die «Mensch-Zügel-Pferd-Sprache», als ich meinen ersten Ausritt in der Natur erlebte und mein Pferd ob dem Zwitschern eines Vogels erschrak. Der kommunikative Wert meiner Zügelaktionen liess sehr zu wünschen übrig, und mir ging es nur noch ums Überleben im Sattel…

In diesem Zusammenhang fällt mir eine Parallele zu meinen allerersten Hypnoseversuchen ein. Wir waren eine neugierige Gruppe aus einer Studenten-WG, die sich in den Kopf gesetzt hatte, einmal in die ominöse Hypnose hineinzuschauen und es an uns selber auszuprobieren. Einer von ihnen hatte antiquarisch eine Anleitung aus einem Fernkurs irgendeines grossen Hypnosemeisters aus Bayern ergattert. Wir befolgten die Instruktionen wortgetreu: Tief und eindringlich dem Anderen in die Augen schauen, mit unbeirrbar überzeugter, tiefer, langsamer Stimme kraftvoll, anschaulich und punktgenau formulierte Suggestionen eines tiefen Schlafs beschwörend wiederholen, und nochmals wiederholen, bis der gewünschte Effekt eintrat. Was aber das Unerlässlichste war: Sich als Hypnotiseur selber das Gesagte mit aller Intensität und unerschütterlicher Überzeugung vorstellen, nicht den geringsten zweifelnden Gedanken zulassen, damit sich die Ideenübertragung auf diese Art verbal transportiert barrierefrei vollziehen konnte. Mit vollstem Ernst setzten wir uns hinter diese brisante Aufgabe, und jedes Mal dasselbe Resultat: Ein homerisches Gelächter! Das war offenbar für uns nicht die richtige hypnotische Sprache … und fürs erste legte ich die Hypnose auf Eis.

Zurück zu meinen Reiterfahrungen. Es konnte doch nicht sein, dass die Reitgrammatik lediglich aus Peitsche und Gerte bestand? Waren die «Wörter», die mir der Reitlehrer vermittelte, etwa falsche Codes? Oder verstand ich etwas Grundlegendes nicht richtig? An sich war ich mit Fremdsprachen vertraut, aber ich war mich deutlich Einfacheres gewohnt: Lateinisch hiess «rosa, rosae, fem.» auf Deutsch immer und für Alle «die Rose», «equus» stand für «das Pferd», und es funktionierte.

Mit den Jahren lernte ich natürlich zu unterscheiden, wann der Fehler bei mir lag, wann das Pferd einfach noch nicht verstand, oder ob es schlecht gelaunt oder unmotiviert war. Wenn ich widersprüchliche Hilfen2 gab, beispielsweise unkoordiniert vorwärtstrieb und gleichzeitig bremste, war es relativ einfach: Man konnte achtsam darauf sein und umlernen, um kongruent zu werden. Aus einem unmotivierten, schlecht gelaunten Pferd war meist wenig herauszuholen und die beste Lösung bestand in der Regel aus einem gelassenen, vorübergehenden Abschied-Nehmen.

Erneut fallen Parallelen mit der Hypnose auf. Als ich nämlich später, mit Beginn meiner beruflichen Tätigkeit, begann, mich mit der therapeutischen Hypnose ernsthafter zu beschäftigen, wurde mir von Anfang an klar, dass die hypnotische «Peitsche» – ein autoritatives Auftreten – für mich als Kommunikationsbasis keine Option war, auch wenn sie damals in der medizinischen Hypnosewelt noch Anhänger fand. Aber auch der normale Sprachumgang auf Augenhöhe war für die Hypnose nicht geeignet. Das Übersetzen dessen, was ich sagen wollte, in eine hypnotische Sprache, bzw. in eine hypnotisch wirksame Sprache, erwies sich als herausfordernd.

Auch hier waren es die Jahre und die Erfahrung, die mir weiterhalfen. Mit der Zeit erkannte ich besser, wo ich inkongruent war, bzw. widersprüchliche «Hilfen» gab. Aufgeregte Patienten, die ich mit Hypnose beruhigen wollte, reagierten oftmals nicht, wenn ich versuchte, mit blumigem Wortreichtum ihnen das wohlige Gefühl einer tiefen Entspannung schmackhaft zu machen. In meiner Selbstbeobachtung stellte ich fest, dass ich dann selbst meinen eigenen Künsten und dem Ausgang der Hypnose nicht traute und entsprechend unsicher auftrat. Was ich sagte und meine Ausstrahlung widersprachen sich und waren somit widersprüchliche «Hilfen».

Übrigens fallen auch die berühmten Negativformulierungen in diesen Bereich: Eine Formulierung wie «Sie haben keine Angst» drückt zwar die legitime Absicht aus, die Angst zum Verschwinden zu bringen, suggeriert aber gleichzeitig das gegenteilige Bild der Angst.

Was den Umgang mit unmotivierten bzw. «schlecht gelaunten», störrischen Patienten betrifft, fand ich im Laufe der Zeit heraus, dass es solche gibt, die sich nach einer vorbereitenden Beziehungsarbeit motivieren lassen. Andere hingegen verabschiedeten sich von selbst, oder – ganz selten – musste ich mich von ihnen trennen, weil wir keine Sprache fanden.

Eine «Sprache» mit dem Pferd ist also nicht einfach gegeben wie das Latein, wo es ausreicht, brav Wörter und Grammatikregeln auswendig zu lernen. Es handelt sich um ein viel komplexeres Zusammenspiel, etwas, das wir gemeinsam entwickeln müssen. Zwar gibt es «Standardsprachen», die sich voneinander unterscheiden – was ich als Kind in Frankreich als Reitsprache gelernt hatte, war später in Schweizer Reitschulen nur noch beschränkt erfolgreich – doch diese müssen in jedem einzelnen Fall mit jedem Pferd individuell angepasst werden. Einige Prinzipien bleiben bestehen, aber die Details werden anders.

Wiederum ähnlich verhält es sich mit den unterschiedlichen Standardsprachen in der Hypnose. Meine erste und somit meine «hypnotische Muttersprache» war die klassische Hypnose: eine Sprache, die sich durch einen gemessenen, tiefstimmigen Sprachduktus, durch das Formulieren klarer, kurzer, quasi formelhafter und einprägsamer, direkter Suggestionen auszeichnet. Diese übermittelt sie in monoton wiederholender Art, möglichst wenige Ideen aufs Mal vorschlagend, um eine gewisse Einschläferung und eine Konzentrierung der Gedanken zu bewirken. Dies war die Sprache, die ich vor dem Sonnenaufgang der Erickson’schen Hypnose praktizierte – durchaus mit hinreichendem Erfolg.

Dann setzte etwa in den 1980er Jahren in Europa die Ära dieser neuen Hypnosesprache ein, die sich auf Milton Erickson bezog. Sie versprach einen viel entspannteren Umgang mit der Hypnose, setzte auf indirekte Suggestionen aller Art, kombiniert mit überraschender Kreativität und Verwirrungstaktiken. Das war eine Sprache, die mir viel mehr Spass bereitete, auch viel mehr Freiheit verhiess. Als Schattenseite hielt sie mich immer in einem gewissen Druck zur Kreativität gefangen: Kreativ sein auf Kommando ist nicht mein Ding, weshalb vielleicht mir diese Kommunikationsform nicht umwerfend bessere Resultate einbrachte. Ich hatte meine ideale hypnotische Sprache noch nicht gefunden, doch mit der Zeit wurde es wirklich spannend.

Auch das Reiten wurde für mich immer spannender, insbesondere einige Jahre später, als ich mein eigenes Pferd besass. Ich hatte sogar das unglaubliche Glück, es als Fohlen zureiten zu können. Plötzlich war alles sehr viel einfacher. Nicht nur entfielen die ständigen Partnerwechsel von Reitstunde zu Reitstunde, so dass wir einen Aufbau angehen konnten. Uns verband auch eine ganz andere Beziehung. Es bestand eine aussergewöhnliche Nähe und ein natürliches, gegenseitiges Zugewandt-Sein. Wir reagierten aufeinander, hatten Freude am gemeinsamen Lernen – es waren genussreiche Momente für Beide, wie beim Tanzen. In dieser Stimmung liess sich eine wirksame, gemeinsame, eigene Sprache mühelos finden.

Besonderen Spass bereitete mir beim Zureiten meines Pferdes ein Spleen: von Anfang an die Dressur nur mit durchhängenden Zügeln zu praktizieren, mit anderen Worten ausschliesslich mit dem Einsatz von Schenkel- und Gewichtshilfen. Ich hatte das tiefe Gefühl, dass dies meinem Pferd ein noch grösseres Gefühl von Freiheit vermittelte und somit auch mehr Vertrauen und Intimität schuf. Selbst wenn diese Reitart nicht «klassisch» war, erlebten wir zusammen wunderbare Zeiten, deren sichtbares Resultat sich auch zeigen liess. Diese Reitart hatte sich völlig von Ideen von Befehlen oder vom Pauken verabschiedet. Sie wurde zu einem gemeinsamen Explorieren: Wie reagiert mein Pferd, wenn ich ihm diese oder jene Hilfe gebe, und wie reagiere ich auf seine Reaktion? Was können wir damit gemeinsam wie erreichen? Das war für Beide viel spannender, als stures «Üben, üben, üben!» – und mein Pferd freute sich, wenn ich den Stall betrat.

Auf parallele Weise entwickelte sich auch meine Arbeit mit meinen Patienten. Je mehr ich Vertrauen in die Hypnose gewann und je wohler ich mich im Umgang und in der Beziehung mit Patienten fühlte, desto einfacher und natürlicher wurde das Finden einer gemeinsamen, individuellen Sprache. Es wurde immer einfacher, ein gegenseitiges Zugewandt-Sein herzustellen. Selbst bei der Arbeit an schwierigen und finstern Themen drang eine Art feine Lust am Entdecken durch, wie wir uns gegenseitig verständlich machen konnten. Diese Sprache nenne ich das konsequente, interaktive Explorieren (s. Texte 2-5, 21 Explorer).


Anmerkung: Menschen, die sich grundsätzlich an ihre eigene Muttersprache klammern müssen – aus Angst vor Versagen oder vor Herabwürdigung – sollten sich überlegen, ob Reiten oder Hypnose für sie geeignet sind, und umgekehrt…




--------------------------------------

1  Der Galopp ist eine asymmetrische Gangart. Entsprechend gibt es einen Links- und einen Rechtsgalopp. Je nach dem greift das Pferd bei jedem Sprung mit dem linken Fuss (Vorderbein) oder mit dem rechten weiter vor als mit dem anderen. Bei einem Richtungswechsel wechselt das Pferd natürlicherweise den Fuss, auf welchem es galoppiert. Beim fliegenden Galoppwechsel, einer Figur der hohen Schule, wechselt es auf Anregung des Reiters den Fuss auf einer geraden Strecke, je nach dem sogar bei jedem Sprung im Takt.

2  Unter «Hilfen» versteht die Reitersprache die Einwirkungsmöglichkeiten des Reiters auf das Pferd, hauptsächlich über Bein- und Schenkelaktivität, über Zügelsignale oder über Gewichtsverlagerungen im Sattel. Unterschiedliche Kombinationen bedeuten unterschiedliche Signale.