Ansichten 4 | Opfer, Täter, | Gestalter | Text 35 |
Opfer, Täter und Gestalter… und die Rolle der Hypnose
Die Zusammenfassung gleich vorweg:
Es geht um eine Formel aus drei Wörtern, ganz einfach sich zu merken: «Opfer-Täter-Gestalter». So simpel es ist, dieses Wörter-Trio kann uns in komplizierten, therapeutischen Situationen oder auch in undurchsichtigen Lebenslagen eine entscheidende Klärung verschaffen. Jeder dieser drei Ausdrücke steht für eine Grundhaltung, die man unbewusst sich selber und dem Leben gegenüber eingenommen hat, allgemein oder unter bestimmten Umständen.
Sie können sich kaum zu häufig fragen, insbesondere in beziehungsmässig komplexen Situationen: Fühlt sich da jemand als Opfer und führt sich so auf? Merkt jemand nicht, dass er in eine Täterrolle gefallen ist? Tritt allenfalls jemand als Gestalter auf? Schon da können Aha-Erlebnisse auf uns warten. Auch im Therapiesetting ist diese Frage von besonderer Bedeutung: Handelt der Patient in einer Opfer-, in einer Täter- oder in einer Gestalterrolle? Reagiere ich als Therapeut in einer Opfer- oder in einer Täterrolle, und worin würde das Einnehmen einer Gestalterrolle bestehen?
Dann ist es ebenso wichtig, sich gleich klar zu machen, dass «Opfer» und «Täter» im Wesen dasselbe sind, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Opfer und Täter sind beide genau gleich in ihrem Thema von Gewalt und Macht gefangen und bewegen sich zusammen in einem Teufelskreis. Nur der Gestalter ist frei davon und kann das rettende Gegenteil bieten.
Ist dies geklärt, so gilt es in der Therapie, einem Patienten zu helfen, aus der Opfer-Täter-Dyade auszubrechen und den Mut zu finden, die Gestalterrolle zu suchen und einzunehmen. Wir ahnen schon, hier wird die Hypnose eine entscheidende Rolle spielen.
Könnte es für Sie Sinn machen, die kritische Frage: «Opfer? Täter? Gestalter?» zu einer Art begleitendem Ohrwurm werden zu lassen? Wenn Sie diese Ideen vertiefen möchten, lesen Sie doch einfach weiter, was mir dazu eingefallen ist, und hoffentlich kommen Sie auch auf eigene, gestaltende Ideen.
Einfache Kost
Sie kennen aus anderen Texten meinen Hang für die einfach verständlichen Dinge. Mein einfacher Geist hat es einfach einfacher, einfache Dinge zu verstehen… Die Ermahnung – sie stammt nicht von mir – gerade in der Psychotherapie solle man nicht allzu schnell verstehen wollen, brannte sich, als ich sie las, geradewegs und unwiderruflich in meinem Hirn ein: Sie war mir nicht nur Entschuldigung, sie war sogar Ermutigung für mein einfaches Gemüt.
Solange wir in der Therapie nicht verstehen, müssen wir irgendwie mit der Unsicherheit des Nicht-Wissens umgehen können. Zur Entlastung wurden hierfür unzählige, mehr oder weniger farbenfrohe, komplexe, ausgeklügelte psychologische Theorien und pfannenfertige Therapiepläne sowie Leitlinien gefunden, die alle sicheres Geleit durch die Therapie versprechen. Was Theorien betrifft, bin ich oft schon froh, wenn ich mit einiger Anstrengung deren Konstrukte überhaupt mitzudenken und deren Logik einigermassen zu erfassen vermag. Der Versuch aber, diese Gedankengebilde dann in meinen realen Patienten ausfindig zu machen, macht mich meist nur hilflos. Es kommt mir dann vor, als wollte ich zu einem neuen Gerät die Gebrauchsanweisung lesen, aber im Büchlein sind nur technische Daten in aller Ausführlichkeit zu finden (natürlich kann ein gewisses Verstehen der Innereien einer Maschine manchmal auch hilfreich sein). Letztlich stellen sich die Theorien zwischen Patient und mich anstatt mir die Türen zu seiner Welt zu öffnen. Vielleicht bin nur ich so…
Für mich sind ganz schlichte, dafür praktische Denkformeln oder Bilder viel zugänglicher. Sie sind mir wie die Taschenlampe meines Handys: Im Dunkeln immer griffbereit, überall mühelos anschaltbar, und immer beleuchten sie wirksam den nächsten Schritt. Auf dem therapeutischen Pfad des Explorierens ist ein solches Zubehör von viel grösserem Wert als die detaillierteste Landkarte der gesamten Gegend. Zwei dieser Formeln kennen Sie vielleicht schon: Das staunende «Ah? Spannend!» als all-round Basisformel des Explorierens, (Texte 1-5, 21), oder das Bild des «Brutkastens» (Text 29).
Genug jetzt der Präambel: Dieser Text möchte Ihnen eine fast rudimentär einfache, formelhafte Orientierungshilfe vorstellen, die Ihren Patienten oder Ihnen selber mehr als einmal den Ausweg aus festgefahrenen Situationen aufzeigen kann. Dabei geht es um fixierte, letztlich destruktive Rollen und wie man sie auflösen kann.
Opfer – Täter – Gestalter: ein bisschen Mathematik
Behauptet wird oft: «Im Leben ist man als Mensch immer entweder Opfer oder Täter.» Klingt klar, einfach, natürlich. Aber stimmt es wirklich?... Genau genommen ganz und gar nicht! Diese Dichotomie widerspiegelt nämlich eine fatale logische Täuschung.
Opfer und Täter sind nicht wie etwa schwarz und weiss oder wie endlich und unendlich ein echtes Gegensatzpaar, das Eine das wesensmässige Gegenteil des anderen. Opfer und Täter sind im Grunde dasselbe, aber mit umgekehrten Vorzeichen. Wir kennen diese Erscheinung auch aus der Mathematik: «plus 1» und «minus 1» sind eigentlich dasselbe, mit unterschiedlichen Vorzeichen: Beide haben denselben Wert 1. Was sie unterscheidet, ist der Ort, wo sie stehen, im Plus- oder im Minusbereich. An einem naheliegenden Beispiel veranschaulicht: Ein Franken in meiner Buchhaltung mit einem positiven Vorzeichen davor ist ein Franken, den ich besitze. Ein Franken mit negativem Vorzeichen fehlt mir, oder ich schulde ihn. Beides Mal geht es um denselben Wert 1 Franken. Das eigentliche Gegenteil dieses Frankens ist null, kein Franken: Kein Besitz, keine Schulden, also ausgeglichene Bilanz, oder einfach keine finanzielle Frage im Raum. Wie sieht es nun aus beim Opfer-Täter-Verhältnis?
Der gemeinsame «Wert» von Opfer und Täter ist die erlittene Gewalt. Beide sind im Bannkreis der Gewalt oder Macht ohnmächtig gefangen. Das «Vorzeichen» des Opfers ist das Verharren im passiven Wiederkäuen seiner Gewalterfahrung, in Form von unverdauten Erinnerungen an die erlebte Machtlosigkeit. Sie bleiben Bilder von unheilbarer Verletzung. Bewusste Wut kann keine aufkommen, und falls doch einmal, dann zeigt sie sich höchstens nach innen gerichtet. Beim Täter besteht das «umgekehrte Vorzeichen» aus einem aktiven, nach aussen gerichteten Ausleben der erfahrenen Gewalt. Dieses Abreagieren entspringt der Energie gleichermassen unverdauten und als unheilbar erlebten Ohnmachtserinnerungen. Diese unbewussten Bilder mit ihrer unaushaltbar destruktiven Kraft suchen sich meist ziemlich wahllos in der Aussenwelt ein Ventil, platzen als Gewalthandlungen gegen irgendwelche Unbeteiligte heraus und schaffen somit wieder neue Opfer – ohne aber dass für den Täter dafür eine Beruhigung entstünde. Und der Kreis dreht sich weiter.
Im Opfer drehen sich die gespeicherten Gewaltbilder in Endlosschlaufen um das eigene Schwachsein und um die Bösartigkeit der Welt. Es entsteht ein Tunnelblick für das Negative. Das beherrschende Grundgefühl ist, gemacht zu werden und nichts machen zu können. Diese Haltung entwickelt im Unbewussten eine Eigendynamik, die das emotionale Leben und die Verhaltensweisen des Opfers fest im Griff hat. Stereotypes Verhalten, implizit immer angstorientiert, sei es depressiv klagend, hadernd, immer auch appellativ, soll die eigene Schwäche nach aussen dokumentieren, um Schonung und Hilfe zu erhalten. Auch wenn dieses bei der Umwelt auf zunächst positives Echo stösst, bringt es aber keine Lösung mit sich. Vielmehr macht es ihm das Leben in der Regel nur immer komplizierter. Nach anfänglichen Erfolgen sieht sich das Opfer durch sein Auftreten zunehmend sozial isoliert, weil dieses von der Umwelt bewusst oder unbewusst als passiv-aggressiv wahrgenommen wird. Das passiv-aggressive Verhalten macht das Opfer eigentlich wieder zu einem heimlichen Täter, was auch wieder den aussichtslosen Kreis weiterzieht. Als Weggefährten solch chronisch gewordener Opfer bleiben meist nur noch mitleidende, ebenbürtige Opfer, mit denen sie sich gegenseitig als Spiegel der Ohnmacht dienen.
Eine wichtige Gemeinsamkeit von Opfer und Täter: Beide verhalten sich der erlittenen Gewalt gegenüber grundsätzlich passiv, nicht nur das Opfer. Beim Opfer zeigt sich natürlich die vordergründige, elementare Passivität in offensichtlicher Weise – auch wenn dahinter parallel eine stille Regsamkeit auf Aktivierung anderer Menschen abzielt. Der scheinbare Tatendrang des Täters findet in der Gewalt statt und täuscht dadurch über seine Passivität der Gewalt selber gegenüber hinweg. Beide versuchen auf ihre – untaugliche – Weise, ihr Problem mit der Gewalt zu lösen, und scheitern. Beiden, dem Opfer und dem Täter, fehlt die konstruktive Dynamik, die den Bann der Gewalt aufzulösen vermöchte. Wo wird die Lösung zu finden sein?
Allzu einfach wäre, sie beim Schlagwort «Gewaltfreiheit» zu suchen. Dieser zwar wohlklingende Begriff benennt als Negativformulierung lediglich, was nicht sein soll, bezeichnet aber nicht, was anstelle treten soll. Der Begriff bleibt passiv. Die sich aus ihm ableitende Haltung öffnet so Tür und Tor für passiv-aggressives Verhalten: Gewaltfrei leben und kommunizieren wird oft als Einladung verstanden, sich konflikthaften Situationen nicht wirklich zu stellen, und so kann sich letztlich in einer Opfer- oder Täterverwicklung nichts ändern. Uns fehlt zum Duo Opfer-Täter also noch immer der wirksame Gegenpol, eine positive (und mutige) Formulierung für die Alternative.
Der Gestalter
Die Lösung heisst «Gestalter». Der Gestalter ist weder Opfer noch Täter, denn er ist der Gewalt gegenüber nicht passiv: Er stellt sich der Gewalt. Der Gewalt und dem Machtbedürfnis gegenüber nimmt er aktiv eine entgegengesetzte Haltung ein und gestaltet Lösungen. Seine Haltung entspricht in unserer mathematischen Analogie dem Null: Null Gewalt, weder Gewalt mit Pluszeichen noch Gewalt mit Minuszeichen. Er bezieht seine Stellung ausserhalb des Bannkreises der Gewalt.
Er verharrt nicht wie das Opfer oder der Täter in einer blutleeren, inaktiven Haltung seinen inneren Gewaltbildern gegenüber. Er gestaltet, anstatt nur chronisch zu erleiden. Der Gestalter richtet sich auf und setzt zum ersten Schritt an, indem er innehält und damit beginnt, sich selber zu hinterfragen. Dazu gehören zwei Dinge: Die Bereitschaft, von Altem grundsätzlich Abschied zu nehmen (s. Text 22) und dabei gleichzeitig eine gewisse Distanz von seinen unmittelbaren Gefühlen einzunehmen. Diese behandelt er aber trotzdem – ganz wörtlich – mit Respekt1, um aus ihnen schliesslich die Lösung herauszudestillieren. Ein wichtiges Instrument in diesem Prozess kann der Humor sein. Humor erlaubt in Spannungssituationen einen freundlichen, nachsichtigen und doch nicht unkritischen Abstand zu nehmen.
Nur diese Voraussetzungen erlauben ihm, in einem nächsten Schritt für seine Situation Verantwortung zu übernehmen. So nimmt er das Steuer seiner selbst in die Hand, und es geht auf die Suche nach neuen kreativen Lösungen. Was heisst hier «kreative Lösungen»? Es geht darum, die innere Realität des Verletztseins mit der aktuellen Realität des Hier und Jetzt konstruktiv so zu verknüpfen, dass eine Dynamik zwischen beiden wiederhergestellt wird und somit innere Weiterentwicklung erneut möglich wird. Im Opfer- und Tätersein dreht sich nämlich die Innenwelt im Kreis und wird nicht mehr von positiven Einflüssen der äusseren Realität berührt und belebt. Die Rolle des Gestalters besteht also darin, wieder Bewegung und Leben in die Innenwelt zu bringen und – last but not least – das existentielle Erlebnis von Selbstwirksamkeit wiederherzustellen. In der Selbstwirksamkeit kann man Situationen verändern, Neues lernen, man ist am längeren Hebel, erlebt eine Stärkung des Ich-Gefühls. Aber auch als Gestalter kann man durchaus Stress erleben, aber dieser wird zu Eustress, im Gegensatz zum Dysstress von Opfer und Täter.
Klingt ganz simpel: Einfach Gestalter werden. Aber, alleine und aus sich selbst heraus ist es nicht immer möglich. So bleibt manch ein Mensch lebenslänglich in seiner Opfer- oder Täterrolle gefangen. Die benötigte Hilfe setzt sich aus verschiedenen Aspekten zusammen, deren wichtigste sind: erstens das Erkennen, dass hinter der Symptomatik eine Opferhaltung vorliegt, und dann etwas – wir werden es gleich sehen – etwas, was die Hypnose wohl am besten bieten kann.
Opferhaltungen erkennen
Tagtäglich geraten wir Menschen im Leben in Situationen, die wir erstens nicht gewünscht, zweitens nicht selbst herbeigeführt haben, in die wir drittens machtlos und ausgeliefert verwickelt werden und die schliesslich viertens uns einen realen physischen oder psychischen Schaden zufügen. Der Schaden braucht nicht gewaltig und auch nicht immer traumatisierend zu sein. Ein Gewitter, das uns ohne Regenschirm überrascht, ein Zug, der uns vor der Nase wegbraust, ein willkürlicher Steuerbehördenentscheid, ein Stau auf der Autobahn, ein unerwarteter und schmerzlicher Todesfall im nahen Umfeld, eine körperliche Behinderung, grundlose Beleidigungen, all dies und vieles mehr sind «Taten», deren Opfer wir im Alltag sein können. Die Liste ist unendlich, und die Täter sind Menschen, Natur, Schicksal, manchmal sogar wir selber mit neurotischen Verhaltensmustern.
Grundsätzlich ist es zunächst eine objektive Machtlosigkeit, die aus uns Opfer macht. Machtlosigkeit aber ist für Menschen etwas vom Schwierigsten zu ertragen, oftmals belastender als der reale Schaden. Machtlosigkeit, bzw. das Gefühl ohnmächtig dazustehen, weckt in uns reflexartig Gegenphantasien von Macht, ein Drang, ja ein Zwang, etwas machen zu können. Grundsätzlich ist dieser Reflex durchaus sinnvoll: Denn sind diese Phantasien realistisch und umsetzbar, können sie die Situation wirkungsvoll entschärfen und stellen somit das Gefühl von Selbstwirksamkeit wieder her. Und das Leben geht weiter, ohne weiteres Opfergefühl.
Oftmals aber gehören diese Gegenphantasien dem Reich der reinen Illusion an. Sie zeigen sich im Stil von «Hätte ich doch nur…» oder «Hätte ich nur nicht (…irgendetwas getan oder nicht getan, wobei das «was» völlig offenbleibt, weil es ja in Wirklichkeit unmöglich war.)». Dann entstehen – ewig um die Unmöglichkeit im Kreis sich drehend – Schuld- und Schamgefühle2. Aktiver, aber ebenso ineffektiv, sind Vorsätze wie: «Das nächste Mal werde ich es ihm dann aber ganz bestimmt zeigen/sagen…! (wobei ebenso sicher ist, dass man es nicht tun wird, weil man genauso blockiert sein wird)». Es zeigt sich in dieser Variante nur die ohnmächtige Wut, die das Opfersein bestätigt.
Eine weitere, verbreitete Form von ohnmächtigen Versuchen, dem Gefühl der Machtlosigkeit zu entkommen, zeigt sich im Delegieren. Hier finden wir die schier unerschöpfliche Batterie von appellativen Verhalten. Durch das Wecken von Mitleid oder durch kategorische Forderungen an die Mitwelt suchen Opfer bei Mitmenschen Schutzinstinkte auszulösen, welche im Erfolgsfall vielleicht kurzfristig Trost und Beruhigung bringen. Doch meist dauert es nicht lange, bis die Helfer beginnen, sich in ihrer Rolle unwohl oder gar genervt und ausgenutzt – selbst als Opfer – zu fühlen, und ihr Hilfsprogramm sistieren. Da die Welt reich an hilfsbereiten Menschen ist, kann das Spiel mit den nächsten, bereitwilligen und engagierten Opfern gleich in die nächste Runde gehen. Wohl führt eine solche Strategie zu einer gewissen Form von Macht, die sich der grundlegenden Ohnmacht entgegenstellt, eine Macht aber, die auf dem Goodwill Anderer aufbaut, und deshalb mit Gestalten noch nichts zu tun hat und auch zu keiner Lösung führt. Einen klassischen Delegierungsversuch dieser Art hat wohl jeder von uns in seiner eigenen Praxis erlebt: «Aber Sie sind doch der Psychiater. Sie haben das studiert. Sie müssen mir die Lösung geben!» (eine grosszügige Aufforderung zum Tanze, und wehe wir steigen ein!).
Alle diese Varianten von ineffektiven, illusorischen Versuchen, der Ohnmacht zu entrinnen, führen allmählich dazu, dass sich das Opfersein zu einer Haltung oder gar zu einer Identität entwickelt. Die Opferverhalten zeigen eine tragische Tendenz, das Opfergefühl kontinuierlich zu steigern, denn sie erlauben nie, Spannung selber abzubauen und eigene Lösungen zu finden. So droht das Versinken in Depression (wenige Depressionen sind nicht auf eine Opferhaltung zurückzuführen)… oder ein Kippen auf die Täterseite.
Wenn das Opfer zum Täter wird
Wie eine versteckte Opferhaltung zu Tätersein führen kann, soll folgendes Beispiel illustrieren.
Frau M. ist eine junge, hochintelligente, bildschöne, in ihrem Beruf als Kader äusserst erfolgreiche Frau. Doch in diesem glänzenden Bild ist ein Schönheitsfehler eingraviert, ein Problem, das sie schliesslich in die Psychotherapie zwingt, weil es sie immer mehr in depressive Zustände und in die Isolation treibt.
Alles begann gleich mit der Zeugung: Vermögende, angesehene, eiskalte, egoistische Eltern. Die bis zur Bösartigkeit kontrollierende Mutter liess es punkto Übergriffigkeiten und Entwertungen ihrem einzigen Kinde gegenüber an nichts fehlen. Regelmässig durchwühlte sie alle Schubladen der Tochter, las ihre Tagebücher, warf ihre Lieblingsgegenstände ungefragt weg, kritisierte alles an ihrem Aussehen und Verhalten, usw.. Der Vater war ausschliesslich auf seinen materiellen Erfolg bedacht und zeigte an seiner Tochter nicht das geringste Interesse, es sei denn, dass sie als Erweiterung seines Erfolgs glänzen musste. Unter Androhung radikaler Verstossung hatte er sie zu einem Studium verknurrt, zu dem sie überhaupt keine innere Beziehung hatte. Von Kindsbeinen an war jeder Versuch einer Auflehnung gegen die Eltern hoffnungslos im Keim erstickt worden. Es liegt auf der Hand, eine solche Pädagogik als Täter-Opfer-Konstellation zu verstehen. Manch anderes Kind wäre vielleicht in dieser Lage zu einem depressiv-ängstlichen, selbstunsicheren Menschen herangewachsen. Sie nicht.
Sie war dafür zu stark, aber es kostete seinen Preis. Sie begann nämlich früh, sich für ihr Schicksal schadlos zu halten, indem sie lernte, überall geschickt zu klauen. Später nutzte sie ihre Attraktivität um sich ältere und jüngere Männer um den Finger zu wickeln, mit denen sie fragwürdige Beziehungen pflegte und sich dafür grosszügig beschenken liess… immer mit der inneren Rechtfertigung der Wiedergutmachung für ihr böses Schicksal. Langfristig erwies sich diese Strategie logischerweise als untauglich, sie wurde schliesslich beim Klauen ertappt, und immer weniger Männer flogen auf sie. Die einst brillante Täterin an Unbeteiligten fiel allmählich in depressive Zustände, zurück in das Opfersein. Immerhin suchte sie jetzt therapeutische Hilfe. Dass der Beginn der Therapie von unangemessenen Forderungen seitens der Patientin (Täterin) und einem entsprechenden Gefühl der Hilflosigkeit des Therapeuten (Opfer) gekennzeichnet war, mag wohl niemanden erstaunen…
So verschmelzen Opfersein und Tätersein in mannigfaltiger Weise zusammen, sodass die beiden Modi oft kaum auseinanderzuhalten sind.
Auf der konkreten Suche nach dem Gestalter: Voraussetzungen
Wie schaffen wir es, dem Gestalter auf die Spur3 zu kommen? Haben wir einmal festgestellt, dass ein Opfermodus vorliegt, geht für den Patienten grundsätzlich nichts ohne eine erste, doppelte Voraussetzung: sich stellen und aushalten. Ohne Bereitschaft, sich dem Thema der Ohnmacht zu stellen, also solange der Blick vom Problem abgewendet bleibt, lässt sich nichts ändern. Sich stellen bedeutet, einen Blick aus der Verschanzung im Opfersein zu wagen. Dieser Schritt ist für den Patienten allein nicht einfach und erfordert meist therapeutische Hilfe. Und dies kann nur gelingen, wenn sich der Therapeut sicher fühlt. Der Blick aus der Verschanzung ist aber mit der Ohnmachtserinnerung verbunden, die ja vom Patienten als unaushaltbar eingeschätzt wird. Auch hier muss die ruhige, sichere Präsenz des Therapeuten den schützenden, emotionalen Rahmen sichern, in dem sich die Fähigkeit Auszuhalten entwickeln kann.
Zwei Wege
Grundsätzlich stehen uns für das Erreichen dieses Ziels zwei Wege zur Verfügung. Der erste sucht über einen Vorspann zuerst auf kognitivem Weg das Bewusstwerden und die Einsicht in die eigene Opferposition zu erreichen. Die weitere therapeutische Arbeit wird dann selbstverständlich die Hypnose miteinbeziehen. Der zweite Weg taucht von Anfang an direkt in die Hypnose ein.
Der Weg über die Einsicht
Zu meinem eigenen Erstaunen habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Patienten zwar meist überrascht aber durchaus positiv darauf reagieren, wenn ich sie im normalen, therapeutischen Gespräch darauf anspreche, dass das, was sie berichten, eine Opferposition widerspiegelt. «Wenn Sie mir so anschaulich schildern, wie Sie es ihrem Chef nie recht machen können, wie beharrlich Sie sich auch darum bemühen, so kommt es mir vor, als wären Sie ein permanentes Opfer seiner grundsätzlichen Ablehnung. Sie sind ja hier in einer Opferposition.».
In seltenen Fällen folgt eine Reaktion, welche den Täter verteidigt: «Aber er hat doch sicher recht und er meint es nur gut.». Dann weiss ich: Spannend – aber wenn ich es weiter auf dem Weg der Einsicht versuche, haben wir eine lange Reise vor uns! Erfolgversprechender ist hingegen der Zugang direkt über die Hypnose (s. weiter unten), weil wir mit ihm keinen Kampf mit Argumenten auszutragen haben (s. Text 15).
Bei Patienten hingegen, die grundsätzlich ressourcenreicher sind, löst diese Intervention in der Regel eine Art Aha-Erlebnis aus, mit der entsprechenden impliziten Reaktion: «Ich, Opfer dieses Menschen sein? Nein danke!» und einer Äusserung wie: «Stimmt. Aber wie soll ich es ändern?». Dann ist das Wichtigste aber schon gewonnen: Der Patient hat sich der Suche nach dem Gestalter zugewandt, und die entscheidende Wendung hat stattgefunden. Die eigentliche Suche findet natürlich am einfachsten mit der explorativen Hypnose statt.
In der Regel folgt also unmittelbar auf seine Reaktion meine Standardinduktion: «Wären Sie einverstanden, die Augen jetzt zu schliessen und zu beobachten, wie sich Ihre jetzige Befindlichkeit in körperlichen Wahrnehmungen zeigt?». In aller Regel meldet sich jetzt eine Emotion – vielleicht erst zögerlich – denn unmittelbar nach einem Aha-Erlebnis bleibt man emotional nicht unempfindlich. Sodann lade ich den Patienten ein, der Entwicklung dieser Emotion explorierend zu folgen: «Sind Sie einverstanden, bei diesem Gefühl zu bleiben und neugierig zu beobachten, was sich dabei entwickelt?». Meist verstärkt sich diese Emotion oder es tritt eine unerwartete Gemütsbewegung oder ein Bild auf, die zum Erlebnis der Ausgangssituation passen, in unserem Beispiel zur Hoffnungslosigkeit dem Verhalten des Chefs gegenüber. Wir begleiten dann die weitere Entwicklung dieser Emotion, so wie sie sich in der Hypnose dann zeigt4.
Selbstverständlich sollen wir einen Patienten mit Feingefühl, aber sachlich und klar, wertschätzend und mit Wärme auf seine Opferposition hinweisen. Andererseits dürfen wir dabei aber nicht übermässig schonend mit ihm umgehen, ansonsten wir ja implizit sein Schonungs- und Vermeidungsspiel des «armen Opfers» mitspielen würden und sich so unsere Intervention selbst sabotieren würde.
Nicht selten löst mein Hinweis auf die Opferhaltung im Patienten die Befürchtung aus, man erwarte jetzt von ihm, zum Täter zu werden – beispielsweise Wiedergutmachung zu fordern, Rache zu üben oder andere aggressive Verhalten zu zeigen, etwas, was er nicht kann und auch nicht will. Meist weist er dann meine Hypothese nicht einfach zurück, aber sein skeptischer Blick bestätigt mir seine Zweifel. In solchen Fällen gehe ich gleich dazu über, ihm einen kurzen Vortrag über die Beziehung zwischen Opfer, Täter und Gestalter zu halten. Bei der Erwähnung des Gestalters erwartet mich fast immer ein erleichtertes Aha-Erlebnis des Patienten und wir haben ein gutes Bündnis für die weitere Arbeit geschlossen.
Habe ich es also geschafft, das Thema «Opferhaltung» konstruktiv in das Bewusstsein des Patienten einzubauen, lässt sich dann die Hypnose mit Leichtigkeit und in tausendfacher Weise einbringen. Sei es in Form von Ich-stärkenden Übungen, mit Krafttieren, Kreativitätsduschen, oder in Form von Entwürfen neugestalteter Begegnungsformen, sei es mit Altersregressionen auf Spurensuche von Erfolgssituationen, in denen sich der Patient behaupten konnte, oder mit Altersprogressionen in zukünftige, erfolgreiche Begegnungen, usw., immer geht es um den Gestalter als begleitender Leitgedanke.
Die Idee des Gestalters wird uns im Verlauf der Therapie immer wieder als Stichwort lotsen können, und mit der Zeit brauche ich nicht einmal mehr, an ihn zu erinnern, sondern der Patient nennt ihn spontan selber, meist mit einem Schmunzeln.
Der direkte hypnotische Weg
Besonders verletzliche oder wenig einsichtsfähige Patienten, Menschen, denen das Opfersein sogar zur Identität geworden ist, lassen kaum zu, dass man sie auf dieses Thema anspricht. Wenn sie den Täter nicht schützen (s.o.), setzen sie alle Waffen der Argumentation ein – egal wie logisch diese dabei herauskommt. Es geht darum, uns zu beweisen, dass ausschliesslich die Aussenwelt an allem schuld ist, und somit die Festung ihres Opferseins uneinnehmbar ist. Argumentieren schürt aber nur die Illusion, unmögliche Dinge in den Griff bekommen zu können. Geduldiges Zuhören, standhaftes Gegenargumentieren oder geschicktes Deuten erweisen sich hier als ebenso energieaufwändig wie aussichtslos. Sie führen höchstens den Therapeuten allmählich in das Kapitulieren – und so in ein paralleles Opferdasein – das wohl wie Empathie wirken mag, aber viel mehr das Entstehen einer Form von «folie à deux» bedeutet.
Wenn uns im Zusammenhang mit Therapie das Wort «Argumentieren» begegnet, sollten wir immer an… Hypnose denken! Hypnose ist ja die Zauberformel, um dem Sumpf des Argumentierens zu entkommen (s. Text 15). Denn Hypnose führt in sicherer Weise weg von den illusorischen Rationalisierungen in das unmittelbare, reale Erleben.
Solche Patienten lassen auch mit der Hypnose keine schnellen Erfolge erwarten. Doch mit ganz kleinen Schritten, anfänglich vielleicht nur in Richtung der Hypnose, oder mit einfachen Erfahrungen in «leichten Trancen» können erste Fortschritte stattfinden. Diese beziehen sich zunächst nicht unbedingt auf die Zielsymptome, haben aber dafür Bestand. Also wenn die hypnosetherapeutische Arbeit anfänglich auch nicht mehr hilft, als zuerst einmal Spannungen auszuhalten, dann vielleicht auch die Ohnmachtsgefühle ein bisschen besser zu ertragen, ist schon Vieles gewonnen. Denn, sind sie einmal erträglich geworden, müssen sie nicht mehr ängstlich-depressiv (Opfer) oder unkontrolliert aggressiv (Täter) abgewehrt werden.
Und wir als Therapeuten… Opfer? oder Täter? oder Gestalter?
Die Rollentriade Opfer-Täter-Gestalter macht natürlich auch vor uns Therapeuten nicht halt, wenn wir uns mit Patienten auseinandersetzen. Am liebsten sehen wir uns ja in einer ruhigen, sicheren, überlegenen Beobachterposition, aus der heraus wir therapeutisch begleitend wirken können. Doch manche Patienten zwingen uns nicht selten unbemerkt in unbequeme Gefühlssituationen, in denen wir dann selber erkennen müssen, dass wir uns in eine Opfer- oder in eine Täterposition begeben haben. Wie wir schon sahen, gehen Opfersein und Tätersein ineinander über, gewissermassen zwei Seiten derselben Medaille. So kann sich das Opfersein des Patienten dem Therapeuten gegenüber als Täterwerden äussern, wodurch der Therapeut wiederum zum Opfer wird, und sich daraus herausarbeiten muss… oder drin bleibt.
Der Therapeut im Opfermodus
Es gibt für uns Therapeuten verschiedene Arten, in den Opfermodus zu geraten. Ganz «offiziell» geschieht es beispielsweise, wenn wir direkt angegriffen werden, sei es wegen Fragen unserer angeblichen Inkompetenz, wegen der Einhaltung von Forderungen des Patienten etc., wenn wir uns persönlich angegriffen oder nicht respektiert fühlen, und wenn wir uns aus diesem Gefühl heraus verteidigen bzw. rechtfertigen. Dann hat der Patient den Lead der Interaktionen übernommen, und wir reagieren aus einer unübersehbaren Opferposition, vielleicht ohne es zu merken.
Der Opfermodus kann sich auch viel heimlicher einschleichen: Ein Mitgefühl mit dem Patienten wird beispielsweise langsam zur Last, wir kommen ins Strampeln um unsere therapeutische Rolle. In uns wächst das Gefühl, wir würden für unseren Patienten zu wenig tun, wir seien seiner Bedürftigkeit nicht gewachsen, und beginnen, an uns zu zweifeln, und im schlimmsten Fall entschuldigen wir uns.
Weitere Opfervarianten zeigen sich, wenn der Patient uns beginnt zu nerven, wir im Versteckten sogar wütend auf ihn werden, oder wir uns unter Druck fühlen, unsicher sind, vielleicht sogar Angstgefühle aufkommen, wenn wir an ihn denken, oder wenn er bzw. sie uns mit erotischen Gefühlen ins Schwirren bringt. Alles recht unangenehme Situationen, die wir uns oft nicht trauen, mit dem Patienten anzusprechen. Unsere Hilflosigkeit ist dann ein Spiegel der Hilflosigkeit des Patienten.
In einen solchen parallelen «Opfermodus» zu verfallen ist nicht grundsätzlich falsch, denn er erlaubt uns, in unserem inneren Spiegel die Befindlichkeit des Patienten selber zu erleben und ihm so näher zu kommen, ihn besser zu verstehen. Doch muss dieser Opfermodus als solcher bewusst wahrgenommen werden, um dann in einen therapeutischen Gestaltermodus umgewandelt zu werden (s. weiter unten).
Der Therapeut im Tätermodus
Das Risiko, sich als Therapeut beim Befreien aus einer Opferposition in den Tätermodus abzurutschen, ist nicht unbeachtlich. Auch hier begegnen wir vielerlei Varianten.
Eine erste Falle verführt uns in einen helfenden Aktivismus. Wir werden überbeschützend, erteilen Ratschläge, loben den Patienten übermässig oder organisieren externe Hilfestellungen, die objektiv nicht nötig wären. Dies macht uns zu Tätern: Die Gewalt, die wir dabei ausüben, besteht darin, dass wir damit dem Patienten eine wichtige Möglichkeit von autonomer Entwicklung entreissen: Wir tun Dinge für ihn, die er sonst mit geeigneter Unterstützung von sich aus und erst noch besser vollbringen könnte. Seine äusserlich bekundete Dankbarkeit, die sicher nicht fehlen wird, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nichts anderes darstellt als eine Äusserung seines sich unterordnenden Opfergefühls.
Eine weitere Spielart des Tätermodus beim Therapeuten besteht darin, sich in einer erlernten Psychotherapiemethode zu verschanzen oder streng nach Leitlinien zu arbeiten, und aus diesem «Wissen» heraus die Therapie zu führen. Von dem Moment an, wo ich aber nicht mehr meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit allen Äusserungen des Patienten widme, um in ihnen Ansätze für Lösungen zu finden, sondern in den Modus gehe, etwas besser zu wissen als er, tue ich ihm genau genommen Gewalt an: Der Patient soll sich meinem «Wissen» anpassen. So sind zwar für mich die Dinge einfacher geworden, für den Patienten aber im Gegenteil komplizierter. Überspitzt gesagt hat er neben seinen ursprünglichen Problemen eines mehr: Mir gefallen zu müssen. Im schlimmsten Fall werde ich dann einen allfälligen Erfolg für mich verbuchen. Und der Gestalter des Patienten bleibt auf der Strecke…
Ein weiterer, subtiler und hinterhältiger Tätermodus zeigt sich, wenn wir eine besonders gute Intervention gemacht zu haben meinen5. Wir schauen auf unsere kreative, punktgenaue, ja sogar erfolgreiche hypnotische Intervention mit Stolz zurück, als hätte sie uns Erickson persönlich eingeflüstert. Der Patient hat sich genau wie von uns geplant verhalten, und er ist von uns ebenso begeistert wie wir selber. Wo ist das Problem? Die Antwort liegt in der Gegenfrage: Bei wem war der Gestalter aktiv?
Ich bin mir bewusst, dass ich hier mit dem schulmässigen therapeutischen Handeln hart ins Gericht gegangen bin, so wie ich in diesen Beispielen die Täterpositionen vielleicht etwas peinlich genau unter die Lupe genommen und Feinheiten angekreidet habe. Dies bedeutet aber nicht, dass das Nichteinhalten dieser Abstinenz ein zwangsläufiges Scheitern der Therapie zur Folge haben muss. Ich denke vielmehr, dass wir mit solchen Täteraktionen einfach Zeit verlieren und das Potential des Patienten einschränken. Ausnahmen können Notfälle bzw. Situationen hoher Dringlichkeit sein, in denen wir nicht über die Zeit verfügen, eine Entwicklung des Patienten anzustreben.
Der Therapeut im Gestaltermodus
Es ist doch frustrierend, wenn wir nicht einmal richtig kreativ, einfallsreich, gescheit, erfinderisch, geistreich, phantasievoll sein dürfen, ohne uns dem Vorwurf des Täterseins aussetzen zu müssen! Sollen wir denn gar nichts tun?
Therapeutischer Gestalter sein heisst, alle unsere Begabungen dafür einsetzen, dass der Patient seinen eigenen Gestalter findet und aktiviert.
Ob wir als aktive Therapeuten heimliche Täter oder wirkliche Gestalter sind, können wir daran messen, ob irgendein Macht- oder Wissensgefälle zwischen uns im Spiel ist. Erst dann bin ich Gestalter in meiner Therapeutenrolle, wenn ich den Patienten zum ebenbürtigen, ja übergeordneten Gestalter mache. Sobald er mir in irgendeiner Form zu gehorchen sucht – sei es aus unbewusster Neigung meinerseits oder seinerseits – ist es fertig mit therapeutischem Gestalten. Die Rolle des therapeutischen Gestalters verlangt von mir grosse Zurückhaltung.
Meine Aufgabe als therapeutischer Gestalter besteht im Schaffen eines Rahmens, in dem der Patient selber seine eigenen Lösungen gestalten kann. Mehr nicht – auch wenn es für mich sehr schmeichelnd wäre, für meinen Patienten perfekte Lösungen gestalten zu dürfen…
Im späteren Verlauf
Oft habe ich schon bei Patienten, welche die Frage des Opferseins gut aufgenommen hatten, später spielerisch die ganz einfache Frage: «Opfer oder Gestalter?» eingebracht. Kam sie zu einem geeigneten Moment, so brachte sie einen heilsamen, meist humorvollen Impuls. So wurde dieses Thema mit der Zeit fast zu einer Art therapeutischem «running gag». Allgemein bringen solche einfachen Kurzformeln (wie auch das Schulterklopfen, s. Text 18, oder die Fünffingermethode, s. Text 10) eine Vertrautheit und Lockerheit in die Therapie, ohne dass dabei irgendetwas an Ernst verlorenginge.
Take-home message (uf Baseldytsch: «s’Bhaltis»)
Auch wenn Sie alles, was Sie jetzt gelesen haben, vergessen sollten – es war ja recht ausführlich – behalten Sie doch vielleicht einfach die drei Wörter «OPFER-TÄTER-GESTALTER» im Kopf, und fragen Sie sich möglichst häufig: Wer ist jetzt Opfer? Wer ist jetzt Täter? Wer ist jetzt Gestalter?
Anhang 1: Dasselbe Erlebnis in zwei Varianten: Opfer oder Gestalter
Es gibt unzählige passiv erscheinende Erlebnisse, die wir sowohl im Opfermodus wie auch als Gestalter wahrnehmen können, je nach dem. Hier einige, wenige Beispiele:
die innere Leere:
- Als Opfer ist sie ein depressiver Zustand. Der Gestalter macht daraus eine Meditation.
aushalten:
- Als Opfer besteht es aus passivem Warten und Hoffen, dass es sich von alleine bessert. Der Gestalter stärkt sich in dieser Zeit, bis eine Lösung möglich wird.
sich aus einer Situation herausnehmen:
- Das Opfer befindet sich auf der Flucht. Der Gestalter macht daraus einen überlegten, strategischen Rückzug, um die Richtung zu ändern oder den richtigen Zeitpunkt abzuwarten.
sich opfern:
- Das Opfer unterwirft sich, wenn es sich für Andere opfert, letztlich widerwillig, aber um sich möglicherweise eine Gunst zu ergattern. Der Gestalter lässt eigene, unmittelbare Interessen bewusst fallen, um damit einem höheren Ziel zu dienen.
Tod:
- Das Opfer verendet. Der Gestalter stirbt6. (Der Täter tötet.)
Anhang 2: Der Retter
Bisher unerwähnt blieb noch ein Mitglied der Gruppe rund um das Gewaltthema: der Retter. Er befindet sich auf halbem Weg zwischen dem Opfer und dem Gestalter. Er ist zwar einen Schritt in die richtige Richtung gegangen, um sich von der Gewalt abzukehren, aber er bleibt auf halbem Weg stehen. Er hilft, setzt sich mit viel Energie dafür ein, aber er braucht den Erfolg für seine Stabilität. Seine Motivation zu helfen entspringt immer noch dem Druck des eigenen Opferseins. Davon ist er nicht wirklich ganz befreit. So gesehen zeigt er Aspekte des Täters. Aber das ändert nichts daran, dass die Resultate seiner Anstrengungen durchaus sehr positiv, produktiv und beachtenswert sein können.
Anhang 3: Ein bisschen Fussballgeschichte
Meine Stadt Basel hat zwei Heiligtümer: Neben der Fasnacht (UNESCO-Welterbe) den FCB (Fussballclub Basel und vielleicht auch einmal Welterbe…). Dieser erlebte einmal eine legendäre Zeit unter seinem Präsidenten Bernhard Heusler. Acht Mal in der Folge blieb er unter seiner Führung Schweizer Meister, und gelangte sogar in die Champions League. Was war Heuslers Geheimnis? Nach jedem Match wurde der Verlauf besprochen und geprüft, und es musste dabei die strikte Regel befolgt werden: «NO COMPLAINT, NO EXCUSE, NO BLAME.» So waren aus dem Gespräch Opferhaltung (Klagen und Entschuldigen) wie auch Täterhaltung (Schuldzuweisung) ausgeschlossen, und es blieb nur noch das Gestalten des nächsten Matches als Kommunikationsmodus übrig.
Anhang 4: Hypnose und Ohnmacht
Wenn es in einer Therapie um Ohnmacht geht, sollte man immer an Hypnose denken. So auch natürlich bei der Thematik Opfer und Täter. Weshalb?
Hier nur kurz skizziert: Ein Merkmal der Hypnose ist das Loslassen, insbesondere von Spannungen und Anspannung. Anspannung ist aber Voraussetzung für das Handeln, für das Machen. In die Hypnose sinkend begeben wir uns also in einen Zustand des Nicht-Machens, in einen Zustand «ohne machen». Also eigentlich in eine freiwillige Machtlosigkeit. Diese Machtlosigkeit hat aber als solche nichts Bedrohliches an sich, im Gegenteil. In ihr können wir uns Zeit nehmen, nach neuen Lösungen zu suchen, Kreativität aufkommen zu lassen und uns wieder zu finden. Die Hypnoseerfahrung stellt also wieder richtig, dass die Erfahrung von Machtlosigkeit, wie sie im unfreiwilligen Opferwerden als destabilisierend erlebt wurde, auch genau das Gegenteil bewirken kann: Stabilisierung. Allein schon die hypnotische Induktion, ohne jede weitere Intervention, führt somit zu einer «corrective emotional experience».
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1 lateinisch: von «re-spicere», wörtlich «wieder betrachten»
2 Scham- und Schuldgefühle wie auch appellative Verhalten verfügen verhängnisvollerweise über ein gewisses Potential an sozialer Anerkennung: So sind Schuldgefühle ein Gut, das in manchen kirchlichen Kreisen äusserst gefragt ist. Und früher, beispielsweise in der «Belle Époque», waren heftige Schamgefühle, besonders bei Damen, ausserordentlich prestigeträchtig. Hierbei wird Ohnmacht und Opfersein gesellschaftlich in etwas «verzaubert», das sich perpetuieren soll, weil es letztlich dem System dient…
3… insofern es ihn überhaupt gibt. Ohne Zweifel wäre es schön, jeder Mensch verfügte über alle nötigen, inneren Ressourcen, um die Gesamtheit seiner Probleme zu lösen. Ist es aber wirklich so? Und woher wollten wir im Voraus wissen, welche unverwirklichten Potentiale in ihm wirklich noch schlummern? (s.a. Text 19)
4Der Psychoanalytiker in mir freut sich dann, wenn diese Emotion direkt oder über Umwege in die Kindheit zurückführt, und dann hinter dem Gesicht des Chefs die ablehnende Mutter oder der ablehnende Vater erscheint. Dann können wir die Arbeit anstatt in der Übertragung auf den Chef direkt an der Wurzel anpacken.
5Freud hielt sich in seinem Sprechzimmer eine besondere Schachtel bereit, mit vorzüglich feinen Zigarren, für die eigene Belohnung, wenn ihm eine seiner Deutungen ausnehmend gut gefallen hatte. Von denen zündete er sich dann eine in Gegenwart des Analysanden an. Eine originelle Variante der Selbstbeweihräucherung, oder nicht?
6N.B.: ein grammatikalisch aktives Verb
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s. Diskussionsbeiträge (Home -> Diskussion)
10.04.2023, Dr.med. Heini Frick, Luzern
16.04.2023, Dr.med. Christoph Weidmann, Therwil