Tipps 3 | Feuerwehrhauptmann | Text 36 |
Die Gretchenfrage des Feuerwehrhauptmanns
Ursprung
Nach absolvierter Militärdienstzeit hat jeder Schweizer Bürger Zivildienst zu leisten. Dieser wird in zivilen Katastrophensituationen für den Schutz der Bevölkerung als Unterstützung eingesetzt. Dieses Schicksal ereilte auch mich, und ich wurde eingezogen. Als Arzt kannte ich den Dienst bei den Sanitätstruppen bis zum Überdruss, und deshalb liess ich mich bei den handfesten Pionieren, d.h. bei den Feuerwehrleuten, einteilen. Dort kann man was lernen! Ich hatte das Glück, dass uns ein alter Instruktor betreute, der weit über seine Pensionierung hinaus mit unverminderter Begeisterung seine Lebensmission erfüllte. Er war, wie er mit Leidenschaft erzählte, bei unzähligen Katastropheneinsätzen auf dem ganzen Globus aktiv gewesen und fand jetzt sein Glück darin, in jungen Menschen den Funken des Katastrophenschutzes zünden zu können.
Gleich zu Anfang seiner Instruktion und ohne grosse Umwege warf er folgende Frage in die Runde: «Welche ist die erste Frage, die wir uns im Anblick einer Katastrophe stellen müssen? Beispiel: Wir stossen auf der Autobahn bei dickem Nebel auf eine Massenkarambolage, neben uns liegt schwerverletzt ein Kind am Verbluten, drei Autos brennen lichterloh usw.… Welche ist also die erste Frage, die wir uns als Helfer – vor allen anderen Fragen – stellen müssen?» Was denken Sie? Welche Frage?
Aus dem Kreis unserer beflissenen Schulklasse sprudelten nur zögerlich ein paar Fragen auf wie: «Bin ich sicher?», «Wie kann ich mich schützen?», «Wo brennt es am meisten?», «Wie viele Verletzte gibt es?», «Kann ich überhaupt helfen?» und noch einige mehr. Natürlich war keine richtig.
Die richtige Lösung lautete – und niemand war darauf gekommen: «Was passiert, wenn ich NICHTS mache?». Wir sassen da, von dieser Antwort wie hypnotisiert. Wer kommt schon auf den Gedanken, wenn es brennt, einfach nichts zu tun? Nach rascher Erholung war aber allen klar geworden: Logisch! Stürze ich mich in einem impulsiven Tatendrang auf die Katastrophe mit unreflektiertem Helferwillen, so riskiere ich schwer, an den wirklichen Anforderungen der realen Situation vorbei herumzuwursteln. Ich muss zwingend als Erstes eine Zeit des Innehaltens einschalten, damit sich realistische Bilder und Szenarien vor meinem inneren Auge entwickeln können. Diese können sich aber erst zeigen, wenn ich mit allen anderen Bildern und Impulsen aufgeräumt habe.
Mit anderen Worten muss ich mir zuerst ausdenken, wie sich die Dinge weiter entwickeln würden, wenn gar keine Hilfe käme. Nur so finde ich zum richtigen Einsatzort. Beim Beispiel des Massenunfalls auf der Autobahn ist der Fall klar: Wenn ich nichts tue, donnern weitere Fahrzeuge in die Unfallstelle, die Katastrophe eskaliert immer mehr, mehr Verletzte, mehr Brände, und die Möglichkeiten zu helfen werden immer unüberschaubarer. Daraus ergibt sich logisch, dass ich als erste Aktion die Unfallstelle sichern muss, damit keine weiteren Fahrzeuge involviert werden. Und das schwerverletzte Kind neben mir, es wird vielleicht sterben.
Wir hatten also dank unserem Feuerwehrhauptmann etwas fürs Leben gelernt. Auch wurde mir sofort klar, dass darin etwas verborgen lag, was für die Hypnosetherapie oder sogar allgemein für die Psychotherapie einen möglichen Nutzen bringen konnte.
Es braucht nicht immer eine Katastrophe zu sein…
… es reicht zu glauben, dass es eine sein könnte. Die Gretchenfrage unseres Feuerwehrhauptmanns beschränkt sich nämlich nicht nur auf reale Katastrophensituationen der äusseren, physischen Welt. Diese Frage macht auch Sinn, wenn wir es (nur) mit emotionalen, katastrophisierenden Vorstellungen zu tun haben. Diese sind in unseren Praxen weniger selten als wir vielleicht zunächst denken…
Das Beispiel von Frau G., einer erfolgreichen aber sehr selbstunsicheren, promovierten Biologin, mag dies illustrieren. Die erste Hypnose begann ganz normal und ruhig, als sie unvermittelt in ein schreckliches Weinen ausbrach und nicht in der Lage war, irgendetwas dazu mitzuteilen. Es war nur unaufhaltbares, verzweifeltes Schluchzen, mit beiden Händen verdeckte sie sich das verzerrte Gesicht, in offensichtlich tiefer Scham. Für jeden Therapeuten ein gewisser Schreckensmoment! Wie schnell aber kann dieser in eine Katastrophenstimmung kippen, wenn beispielsweise ein noch wenig erfahrener Therapeut den Boden verliert und in seinem schlechten Gewissen nur noch den alten Goethe zischen hört: «Die ich rief, die Geister…».
In solchen Momenten wirken im Wesentlichen zwei Impulse zusammen, die uns in einen Aktivismus treiben wollen: die natürliche, menschliche Regung, diesen Mitmenschen trösten und beruhigen zu wollen, und dann auch die Forderung an den Therapeuten, die Kontrolle über die Situation zu wahren, bzw. dessen Angst, dass sie ihm entgleite: Sofort handeln, sonst entgleist alles! Nicht immer führt das Trösten zur wirksamsten Kontrolle über die Emotion.
Was hätte nun aber alles geschehen können, wenn ich gar nichts getan hätte? Theoretisch waren verschiedene Szenarien denkbar:
… wenn ich nichts getan hätte, hätte sich die Patientin vielleicht aus der hypnotischen Beziehung völlig herausklinken können, für unbestimmte Zeit in ihrem Abgrund versinken, unerreichbar, vielleicht sogar nie mehr herauskommen können (?), während der nächste Patient schon längst im Wartezimmer wartete und ich immer nervöser geworden wäre – und später hätte sie mir (und mit ihr die ganze Welt) vorgeworfen, ich sei ein Unmensch. Vielleicht mag dies der häufigste, unmittelbare Reaktionstyp sein, ein unfiltriertes, von unserem Unbewussten aufgetischtes Schreckensszenario. Was aber tun als folgerichtige, vernünftige Reaktion auf solche Phantasien des Therapeuten?
Da ist zwar guter Rat teuer, aber in Wirklichkeit ist diese Variante höchst unglaubwürdig. Zum einen trägt sie der Präsenz und dem Wirken des «hidden observer» (also desjenigen Anteils der Psyche, der auch in tiefster hypnotischer Trance den Kontakt zur realen, äusseren Realität nicht verliert – wir sprechen hier von der bestehenden, therapeutischen Beziehung und vom Setting) nicht Rechnung. Zum anderen übersieht sie, dass das Auftauchen der starken Emotion von Frau G. nur aufgrund des bestehenden Vertrauens zu ihrem Therapeuten möglich geworden war. Weshalb sollte Frau G. den Halt der Vertrauensbeziehung, den sie mit mir aufgebaut hat, einfach fallen lassen, ohne dass ich dazu Anlass gegeben hätte? Dieses Szenario können wir also getrost beiseite lassen.
In die Ecke .......
… wenn ich nichts getan hätte, hätte es auch sein können, dass Frau G. in ihrer Not meine stille Präsenz zwar wahrgenommen hätte, aber als zu kraftlos, um sich wirklich geschützt zu fühlen. Mag sogar sein, dass sie in mir eine heimliche Unsicherheit erraten hätte. In jedem Fall wäre die therapeutische Wirkung dieser Trance tatsächlich gering ausgefallen.
Bei diesem Szenario müsste mein Plan folglich zuerst in Richtung einer Selbstreflexion über meine allfällige Unsicherheit gehen. Zum andern müsste ich ihre Wahrnehmung meiner solidarischen Präsenz im «Brutkasten» (s. Text 29 «Die Metapher des Brutkastens») durch entsprechende Interventionen stärken. Beispielsweise könnte ich mich spürbarer und hörbarer machen, indem ich aktiv spiegle, dass ich die Gewalt ihrer Emotion authentisch mitempfinde und mitschwinge. Gleichzeitig würde ich durch meine Ruhe implizit zeigen, dass ich bereit bin, es mit ihr zusammen auszuhalten, und dass ich somit auch ihren Ressourcen vertraue.
… wenn ich nichts getan hätte, wäre vielleicht in ihrem inneren Erleben der therapeutische «Brutkasten» aufgrund unserer vorangegangenen, Vertrauen begründenden Interaktionen solide genug gewesen, und die Dinge hätten sich von alleine positiv entfaltet. Ihre Ressourcen hätten von selbst Lösungen entwickelt. In diesem Szenario braucht es meinerseits keinerlei Aktivität, nur meine aushaltende, mitfühlende Präsenz.
Bei allen drei Varianten – und es gibt natürlich noch viele mehr – fusst letztlich meine Entscheidung über das weitere Vorgehen auf meiner Wahrnehmung, auf meiner Einfühlung, meiner Intuition vielleicht, wo die Patientin jetzt innerlich steht. Auf jeden Fall gehört als Absicherung auch die minuziöse Beobachtung ihrer Mimik und der vegetativen Zeichen dazu. Standardinterventionen von der Stange, aus welcher Schule auch immer, erweisen sich da als viel riskanter, denn ihnen fehlt der reale Bezug zur aktuellen, wirklichen individuellen Situation des Patienten. Die Gretchenfrage des Feuerwehrhauptmanns hingegen versetzt uns durch die innere Distanzierung von Schablonen unmittelbar in das Hier und Jetzt. In diesem Eintauchen ins Hier und Jetzt finden wir realitätsorientierte Szenarien und damit den Weg zu den zweckmässigsten Handlungsweisen. Diese Haltung erlaubt uns gleichzeitig auch, jede weitere Sekunde wachsam explorierend zu bleiben und allenfalls, wenn nötig Kurs zu wechseln.
Es braucht nicht einmal Katastrophenstimmung zu herrschen
Unser Feuerwehrhauptmann kann uns auch in vergleichsweise gemütlichen Situationen nutzbringend therapeutisch beraten. Kehren wir zu Frau G. zurück, einige Sitzungen später. Wir befanden uns im Gespräch auf einer nicht ganz einfachen Spurensuche nach Situationen in ihrem vergangenen Leben, in denen sie sich stolz gefühlt hatte. Schliesslich kam ihr doch die Erinnerung auf, wie sie es damals geschafft hatte, sich gegen ihre Mutter zu behaupten, und ihren Entschluss durchsetzte, Biologie zu studieren. Der Preis dafür war aber ein unversöhnlicher Streit mit ihr und dass sie unverzüglich und definitiv das Elternhaus verlassen musste.
Herr Feuerwehrhauptmann, was passiert, wenn ich in dieser Situation als Therapeut nichts tue? Ich kannte Frau G.’s Neigung nur allzu gut, jede positive Regung, die in ihr aufkam, sofort wieder mit Argumenten zu demontieren. Wenn ich also nichts tat, fiel diese Erinnerung mit grösster Wahrscheinlichkeit in den Fleischwolf ihrer Zweifel. Meine Entscheidung war klar: ohne Verzug eine Hypnose, denn dann ist man vor Argumentationen am sichersten (s. Text 15 «Was ist Hypnose»). Sie zeigte sich wohl über meinen Vorschlag etwas verdutzt, war aber einverstanden, die Augen zu schliessen. Mit meiner Unterstützung liess sie sich auch sachte in Trance zur besagten Situation zurückgleiten und in das Gefühl wieder eintauchen, wie es damals gewesen war, sich entschieden zu haben, zu sich zu stehen, den Rausschmiss zu riskieren und auf zu neuen Ufern zu schweben. Ihr Gesicht blieb gelöst und entspannt.
Nun, nochmals bitte, Herr Feuerwehrhauptmann, was passiert, wenn ich jetzt nichts tue? Ich frage wieder, weil ich nämlich manchen Hypnotherapeutenkollegen kenne, der sich jetzt beflügelt fühlen würde, das mutmassliche Gefühl der Patientin wortreich und blumig mit Suggestionen auszuschmücken. Ja, er würde vielleicht sogar dazu ansetzen, eine reizvolle Geschichte, die ihm gerade einfällt, zu erzählen (davon gibt es auch ganze Bücher voll). Ihre Gretchenfrage, Herr Hauptmann, lässt mich in solchen Momenten eine andere Frage stellen: Angenommen, ich wäre jetzt an der Stelle meiner Patientin, in eine so wohltuende Altersregression gesunken, endlich in geschütztem Rahmen ganz bei mir selber, und endlich wieder beim so seltenen, kraftvollen Gefühl des Stolzes, würde ich mir solche Kommentare von meinem Therapeuten wünschen? Dann tue ich eben nichts, und freue mich mit der Patientin.
Was hat die Gretchenfrage sonst noch mit Hypnose zu tun?
Schon diese Frage an sich ist hypnotisch, und zwar für uns Therapeuten, insofern als sie uns von einem Bewusstseinszustand in einen andern bringt. Sie holt uns aus einer unreflektierten Aktivismustrance, die animalisch gedeutet zum «survival mode» gehört, heraus und befördert uns in den besonnenen, ruhigen Gegenmodus, den «seeking mode», in welchem sich erst neue, der Realität angepasste Reaktionsweisen entwickeln können. Der «seeking mode» orientiert sich nämlich ganz an der aktuellen realen Situation, während der «survival mode» nur alt eingebrannte Automatismen in Gang bringen kann, in denen die Realitätsprüfung reduziert ist.
Ja, und jetzt?
Was passiert, wenn ich nichts Weiteres dazu schreibe?