«Den Film wieder vollständig machen»…


..... oder Traumatherapie damals

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Text 33

«Den Film wieder vollständig machen»…

oder Traumatherapie damals

Fern von mir die Absicht, in diesem Beitrag etwas grundsätzlich Neues zum Thema der Traumabehandlung präsentieren zu wollen. Für solche Dinge gibt es viel gewichtigere Prominenz als mich. Im Gegenteil möchte ich Ihnen über eine alte Fallgeschichte berichten und meine persönlichen Überlegungen dazu darlegen, treu meinem Lieblingsmotto des grossen Montaigne: «Je n’enseigne point, je raconte.» 1

Frau J. und das Wasser

In den ganz frühen Achtzigerjahren – ich hatte meine Praxis erst kürzlich eröffnet und war in Sachen Hypnose als weitgehender Autodidakt noch recht wenig erfahren – suchte mich eine ältere Dame auf, die unter einer schrecklichen Wasserphobie litt, dies seit über vierzig Jahren. Schon beim Anblick, ja allein schon beim blossen Gedanken an Wasser geriet Frau J. in fürchterliche Panik. Duschen war für sie ein täglicher Kampf mit der nackten Angst. Sogar beim Einkaufen in Basels Altstadt zwang sie die Gegenwart der prächtigen Renaissancebrunnen mit ihren stolzen, bunten Statuen grossräumige Umwege auf sich zu nehmen, weil das fröhliche Plätschern des Wassers aus den historischen Messingrohren in ihr panische Lähmung auslöste. Dies und vieles mehr rund um das Wasser schränkte ihr Leben seit vierzig Jahren erheblich ein. Ansonsten wirkte sie wach und unternehmungslustig, eine witzige Frau, gesund und rüstig in ihren Siebzigern. Sie hatte gehört, dass ich mit Hypnose arbeite, und sie sah in dieser Möglichkeit ihre letzte und einzige Rettung.

Die Heftigkeit des Symptoms und die jahrzehntelange Dauer seines Bestehens liessen mich ziemlich ratlos und gleichzeitig überwältigt. Was steckte wohl dahinter? Und wie konnte ich es verantwortungsvoll angehen? Handelte es sich, wie der Psychoanalytiker in mir erwog, um eine tiefere Störung? Spielte hier also eine massive Verdrängung mit, die nicht ungestraft geknackt werden durfte? Konnte vielleicht sogar hinter dem Widerspruch zur sonst sehr vital wirkenden Frau ein Spaltungsphänomen im Spiel sein? Ich nahm sie aber nicht als gespalten wahr. Was konnte ich tun, um mich nicht auf allzu gefährliches therapeutisches Glatteis zu begeben? Konnte im Gegenteil vielleicht ein einfaches Verhaltenstraining in Hypnose ausreichen, um sie zu heilen? Ich wollte mich vor dem Start sicherer fühlen und forschte zunächst ein bisschen weiter.

Seinen Anfang genommen hatte Frau J.s Problem wenige Wochen nach einem äusserst ungemütlichen Ereignis in den Badeferien. An einem Strand der französischen Atlantikküste schwamm sie gemütlich ins Meer hinaus. Nichts ahnend war sie von einem heimtückischen Brandungsrückstrom ins weite Meer hinausgezogen worden. Viel zu spät realisierte sie, dass ein Zurückschwimmen völlig hoffnungslos war. Sie geriet in Panik und ertrank.

Doch irgendwie hatten Fischer oder eine Küstenaufsicht es mitbekommen und sie an Land bringen können. Sie wurde also offensichtlich rechtzeitig reanimiert, so dass sie weitere vierzig Jahre recht glücklich – bis auf diese happige Wasserphobie – weiterlebte. Zwei psychotherapeutische Behandlungsversuche, einer psychoanalytisch orientiert und länger dauernd, der andere kürzer und verhaltenstherapeutisch strukturiert, hatten beide nichts Nennenswertes an Besserung der Symptomatik gebracht.

Jetzt sass sie also in meiner Praxis und erwartete von mir, ihr Problem mit Hypnose zu lösen. Immerhin wusste ich jetzt, dass es infolge eines fast tödlichen Ereignisses begonnen hatte. Bisher hatte ich mit solchen Dingen noch keine einschlägigen hypnotischen Erfahrungen gemacht, und so fehlte mir auch die nötige Sicherheit. Aus der Literatur wusste ich nur, dass bei sogenannten «Kriegsneurosen» (eigentlich Traumatisierungen) Rückführungen mit Abreaktion offenbar mit Erfolg durchgeführt worden waren. Aber ich war einer solchen nie begegnet. Zumindest war für mich vermutlich der Umstand hilfreich, dass damals – vor über vierzig Jahren – noch keine akkreditierten Psychotraumatologieausbildungen existierten, sonst hätte ich womöglich das Gefühl gehabt, mangels spezifischer Techniken und einer Bescheinigung über die Absolvierung eines ganzen Lehrgangs auf die Behandlung verzichten zu müssen...

Mit Frau J. versuchten wir, zusammen den psychischen Mechanismus hinter diesem Problem zu verstehen. Wir gelangten zur Hypothese, dass in ihrem Unbewussten jedes Mal, wenn sie irgendwie mit dem Thema Wasser konfrontiert wurde, der schreckenerregende Film von damals im Hintergrund ungebeten, unsichtbar aber massiv emotional losging, jedes Mal aber auch unverzüglich und automatisch abgebrochen wurde, sobald der Moment der Panik und der Sterbensangst aufzukommen drohte.

Wir wurden uns auch einig, dass neben dem offensichtlichen Nutzen dieses Vermeidungsautomatismus – Schutz vor dem permanenten Stress der Todesangst zu sichern – diese unbewusste Strategie einen bedeutenden Nachteil aufwies: Jeder Rückzieher vor dem entscheidenden Moment des Films – dem Ertrinken – bestätigte indirekt eine Unwahrheit, nämlich dass man im Wasser immer sterben wird. Eine Erinnerung an eine Begebenheit, die aber am Ende ja nicht so stattgefunden hatte. Der Schutzmechanismus war also ein Selbstläufer, der immer wieder etwas bestätigte, das nicht stimmte. Was fehlte, war der zweite Teil des Films, in dem sie ihre Rettung erleben konnte. Dieses fundamental wichtige Erinnern des zweiten, erlösenden Teils wurde durch das phobische Verhalten systematisch verhindert.

Wir besprachen also zusammen, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach heilend wirken musste – so es uns gelingen würde –, wenn wir die beiden Hälften des Films wieder miteinander zu verknüpfen und so die wirkliche Wirklichkeit wiederherzustellen vermochten. Somit würde ein neuer, aber diesmal vollständiger Film entstehen. Dieser würde das Ertrinken als ein überwundenes Lebensereignis wieder der Wahrheit entsprechend darstellen. Demzufolge müsste dann logischerweise in Zukunft beim Anblick von Wasser dieser neue Film im Hintergrund starten, ein Film der mit dem bisher ausgeblendeten Happyend enden würde. Der innere Film wäre dann nicht mehr eine allgegenwärtige und in seiner Form illusorische Bestätigung des unmittelbar drohenden Todes, sondern er könnte im Gegenteil eine Bestätigung des Überlebens eines schweren Zwischenfalls werden. Im Zustand der Hypnose würde dies wohl am besten gelingen können, weil wir uns dann nicht in Argumenten und Theorien verlieren würden, sondern das Erleben direkt anpacken könnten. Eine eigentlich recht einfache Logik, die uns beide überzeugte.

Was riskierten wir, wenn wir uns auf diesen Versuch einliessen? Sie hatte das Ertrinken überlebt, sie hatte diese Erinnerung vierzig Jahre lang erfolgreich in ihrem Unbewussten aufbewahrt und damit gelebt. Offensichtlich war die Balance zwischen Trauma und ihren Ressourcen genügend stark, und der Schutz ihrer psychischen Kräfte hatte ausgereicht. Weshalb sollten ihre Ressourcen vierzig Jahre halten und uns jetzt im Stich lassen, wo zudem der Brutkasten der Hypnose (s. Text 29 «Der Brutkasten») wirkte?

Zudem hatte sich durch dieses gemeinsame Erarbeiten eine für uns beide sinnvolle Arbeitshypothese zusammengefügt und zwischen uns war ein solides, gegenseitiges Vertrauen und Arbeitsbündnis entstanden. Auf dieses aufbauend konnten wir uns – nicht nur Frau J. sondern auch ich – getrost in dieses hypnotische Abenteuer einlassen. Mit meinen Anfängerkünsten leitete ich eine Hypnose ein und lud sie ein, in dem Masse, wie sie es sich zutraute, in den Film der Ertrinkenden einzutauchen. Ich ermutigte sie, sich jetzt in das Erleben dieses Vorfalls wieder hinein zu begeben, möglichst genau so wie es ihr damals ergangen war (also im assoziierten Modus und nicht sich von aussen betrachtend). Sie schilderte spontan, wie schön es war, in die Wellen hinauszuschwimmen, und zu meiner Überraschung sah ich plötzlich, wie sie verstummte, begann nach Luft zu ringen, und panisch ihr Gesicht verzog. Es sah wirklich schreckenerregend aus.

Da standen sie, die Geister, die ich rief… War ich vielleicht doch daran, sie in etwas Schlimmes, in ein neues traumatisches Erlebnis hinein zu verführen? Ich musste mich standhaft und mit klarem Bewusstsein an mein Wissen um die gesamte Realität klammern: Frau J. befand sich jetzt in zwei Wirklichkeiten, einerseits in ihrer inneren, hypnotischen Realität der Vergangenheit und andererseits in der physischen Realität ihrer Präsenz in meiner Praxis, und es galt jetzt, irgendwie diese beiden Realitäten aufeinander wirken zu lassen, damit sich die beiden Filmhälften wieder zusammenfügen konnten. Zudem halfen mir auch die Überlegungen, die wir mit Frau J. gemacht hatten, dass sie den Schrecken ihrer Beinahe-Tod-Erfahrung seit vierzig Jahren alleine und erfolgreich in sich trug und dabei nicht zugrunde gegangen war. Weshalb sollte sie also ausgerechnet jetzt bei mir, im schützenden Rahmen, untergehen?

Da war die nächste Frage: Sollte ich nun einfach zusehen, wie Frau J. fast erstickte und mich dabei in Schweigen hüllen? Sicher war dies keine Option: Allzu leicht hätte sie sich alleingelassen fühlen können. Kurz vorher hatte ich an einem Kongress mit eigenen Augen die Demonstration eines deutschen Kollegen miterlebt, wie er «Altersregressionen» unter gewaltigem psychologischem Druck machte – «Jetzt los, nur ran! Gehen Sie voll rein!» –, wie die Versuchsperson in entsprechend heftige Emotionen ausbrach, danach aber alles andere als erbaut wirkte. Dies war mir definitiv kein Vorbild, und eine solche, anfachende Unterstützung war also etwas, worauf ich lieber verzichtete. Eine etwas mildere Variante hätte auch sein können, sie mit einem väterlichen «Gut so! Machen Sie weiter! Prima!» zu unterstützen. Aber, um authentisch zu sein, fehlte mir dazu die entsprechende Erfahrung. Übrigens würde ich es auch heute nicht tun: Mit einer solchen gütig-unterstützenden Haltung würde ich mich der Patientin gegenüber als eine Person hinstellen, die offensichtlich weiss, was für sie gut ist. Etwas arrogant, in meinen Augen. Dadurch würde ein unnötiges Beziehungsgefälle geschaffen, das nicht wirklich Ich-stärkend wäre. Was aber sagen, um nicht nur zu schweigen?

Da kam mir ein intuitiver Blitzgedanke zu Hilfe: Eine Frage. Ich fragte Frau J. etwas eigentlich ganz Banales und Natürliches (was mir aber jetzt im Nachhinein als eine zentrale Intervention erscheint): «Sind Sie einverstanden, in diesem Erlebnis zu bleiben, und es mit mir durchzustehen, bis es durch ist? Oder wollen Sie jetzt lieber zurück aus der Hypnose und wieder in den normalen Wachzustand zurückkehren?». (Weiter unten in diesem Text will ich dann etwas vertiefter auf die Bedeutung dieser Frage eingehen.) Ich bat sie, mir mit einem vereinbarten Fingerzeichen zu antworten. Sie wollte weitermachen.

Ihre Atmung wurde immer kritischer, ihr Ausdruck immer angstverzerrter. Irgendwann schien sie sich zu ergeben aber… planmässig atmete sie weiter. Sie verharrte eine Weile wortlos, schien sich aber ziemlich rasch von ihrem Stress zu erholen. Ich unterstützte sie nur zwischendurch mit einem «Sehr gut. Nehmen Sie sich Zeit.» (Jetzt konnte ich ihr bestätigen, dass es sehr gut war, weil ich sah, dass sie es überstanden hatte). Schliesslich öffnete sie die Augen, liess eine Weile ihren Blick vor sich ruhen, und schaute mich dann an: «Ich habe alles wieder erlebt, es war entsetzlich, aber es geht mir jetzt so viel besser!». Wir fühlten uns, glaube ich, beide sehr erleichtert.

Wir wiederholten dieselbe Prozedur eine Woche später in der zweiten Sitzung. Die Emotionen waren diesmal überhaupt nicht mehr spektakulär. Die dritte Sitzung ein paar Wochen später diente nur noch, um zu bestätigen, dass die Wasserphobie restlos verschwunden war.

Einige Überlegungen

Die «magische» Frage an die Patientin mitten im Trubel

Ich versprach Ihnen, noch etwas mehr zu der Frage zu sagen, die ich Frau J. stellte, als sie in Trance daran war, in den maximalen Stress einzutauchen. Eigentlich eine ganz simple Frage: «Sind Sie einverstanden, in diesem Erlebnis zu bleiben, und es mit mir durchzustehen, bis es durch ist? Oder möchten Sie jetzt lieber die Hypnose wieder verlassen und in den normalen Wachzustand zurückkehren?». Was ist das Besondere an dieser Frage?

Erstens: Ich fragte nach einem Einverständnis und tat dies nicht einfach als Ausdruck einer natürlichen Höflichkeit oder als rhetorische Floskel. Ich fragte danach und bat nicht um dieses Einverständnis. Meine Frage war also in keiner Weise als Verführungsversuch gedacht, sondern Ausdruck einer absolut authentisch offenen Haltung: Ich musste bereit sein, eine negative Antwort genau gleich gelassen aufzunehmen wie eine positive. Eine allfällige negative Antwort hätte sogar den Vorteil gehabt, uns auf unserer explorierenden Spurensuche vielleicht auf etwas Neues hinzuweisen.

Zweitens: Das Einholen eines freien Einverständnisses bleibt nicht ganz ohne hintergründige Wirkungen. Dieses Fragen drückt nämlich implizit aus, dass ich die Freiheit und Autonomie der Patientin auch in einem Moment extremer Not wie in einer Traumatrance voll und ganz anerkenne und respektiere. Diese Frage wird also zu einem Faktor, der genau in die Richtung des eigentlichen therapeutischen Ziels führt: Wenn ja das Trauma eine Situation war, in der sie alles Andere spürte als ein Gefühl von Freiheit und Autonomie, und wenn sich die Patientin jetzt in Hypnose auch wieder in einem solchen Zustand des Ausgeliefertseins befindet, wirkt es besonders hilfreich, wenn ich sie als Therapeut implizit daran erinnere und erleben lasse, dass sie in der Realität des Hier und Jetzt in der Hypnose nicht nur in äusserster Not sondern gleichzeitig frei ist und Autonomie besitzt.

Dann: Freiheit bedeutet auch Verantwortung. Mit einem Ja zum Einverständnis, weiter vorwärts zu gehen, übernimmt die Patientin auch ihren Teil der Verantwortung im weiteren Verlauf der Trance. Verantwortung haben und akzeptieren, und dies auch spüren – wenn auch nur indirekt –, wirkt immer als wichtiges Ich-stärkendes Fundament. Ein starkes Ich zeichnet sich nämlich gerade dadurch aus, dass es Verantwortung übernimmt und dadurch die Opferrolle verlässt: Es nimmt die Gestalterrolle an, das eigentliche Gegenteil der Opferrolle. Die Eigenverantwortung der Patientin bedeutet nicht, dass nicht selbstverständlich meine therapeutische Verantwortung fortbesteht: nämlich den Rahmen zu sichern und stabil präsent und zugewandt zu bleiben. Den Inhalt der Trance aber gestaltet die Patientin letztlich in Eigenverantwortung, ein Paradox gegenüber der Traumasituation, in der sie ja keinerlei Verantwortung mehr übernehmen konnte. Aber eben, in der Trance laufen die Dinge jetzt anders, weil es jetzt um ein Erinnerungsbild und nicht mehr um die aktuelle Realität geht.

Meine Frage nach dem Einverständnis, zusammen mit der Antwort der Patientin, lässt uns einen impliziten, gemeinsamen Pakt eingehen. Diese starke Verbindung trägt wesentlich dazu bei zu vermeiden, dass sich die Patientin im entscheidenden Moment aus der Dissoziation wieder ausklinkt. Vermieden wird somit, dass sie in der Mitte des Tunnels unverrichteter Dinge wieder umkehrt und somit das Falsche an der Erinnerung verstärkt. Sie erhält eine wichtige Unterstützung im Aushalten, im Ausharren, bis die Reassoziation stattfindet.

Das Alpha-Tier

Wenn wir als Therapeut die Frage nach dem Einverständnis der Patientin mit ungespielter Sicherheit vorbringen, sprich die authentische Bereitschaft haben, uns mit ihr in das Abenteuer der hypnotischen Traumaarbeit einzulassen, drücken wir damit indirekt unsere eigene Überlegenheit über die mit Bestimmtheit aufkommende Angst aus. Diese Überlegenheit bedeutet nicht, dass wir nicht in empathischem Mitschwingen selber auch Herzklopfen verspüren oder Schweiss produzieren können. Überlegenheit ist weder Kälte noch Pokerface. Einzig dürfen diese Emotionen uns nicht beherrschen. Denn dann würden wir die Macht, hilfreich zu sein, verlieren. Wenn hingegen unsere eigene Ich-Stärke, unterstützt durch das klare Verständnis um das, was jetzt vorgeht, ausreicht, um dem Geschehen mutig in die Augen zu schauen, wird sich die Patientin geschützt fühlen. Der Punkt ist, dass wir keine Fluchttendenz in uns spüren. Die Patientin würde dies in ihrer Trance, besonders inmitten ihrer Traumarevivifikation, zwangsläufig spüren und müsste dann realistischerweise befürchten, von uns im Stich gelassen zu werden. Und sollte das stattfinden… dann hätten wir die Retraumatisierung!

Letztlich hängt also der Erfolg einer Traumabehandlung wesentlich von unserer eigenen Gefühlslage bzw. von unserem Auftreten als Therapeut ab. Wir dürfen – und sollen sogar - empathisch sein und das Gefühl der Gefahr miterleben, aber wir dürfen uns nicht in Angst oder Zweifel treiben lassen, sondern diesen Gefühlen gegenüber Überlegenheit bewahren. In der Ethologie nennt man die daraus resultierende Position den «dominanten Beschützer» bzw. das Alpha-Tier oder Leittier (und wir sind ja in unserem Innersten Tiere, mit allen animalischen Verhaltensweisen ausgestattet…). Die Alpha-Position zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass sie keinerlei persönliche Angriffs- oder Fluchttendenzen beinhaltet, bzw. sich nicht von ihren individuellen Emotionen, sondern von ihrer Aufgabe, die Herde zu schützen, leiten lässt. Die wichtigste Funktion des Leittiers besteht darin, Gefahren wahrzunehmen und dabei die nötige Autorität auszustrahlen, um die Herde zu schützen. Instinktiv unterordnet sich die Herde gerne (er oder sie ist ja das Starke, Schützende), weil sie sich in Sicherheit fühlt und nur so auch wirklich sicher sein kann. Dominant ist das Alpha-Tier also nur insofern, als es sich weder durch seine eigene Angst noch durch die der Mitglieder der Herde leiten lässt. Genau in diese animalische Rolle müssen wir uns begeben. Dann können wir die Panik der Patientin mitfühlen ohne uns davon anstecken zu lassen. Als besondere Hilfe verfügen wir als vernunftbegabte homines sapientes über eine essentielle Stütze: das klare kognitive Wissen, dass das Trauma sowohl einen Anfang wie auch ein Ende hatte, und dass somit auch die wiedererlebte traumatische Erinnerung, die einen Anfang genommen hat, zwangsläufig auch wieder ein Ende finden wird.


Wieder der heimliche Helfer der Hypnose, und die Hilfe, die wir ihm bringen

Jetzt stellt sich noch eine etwas ausgefallen wirkende Frage bzw. Beobachtung: Wie kann es sein, dass eine tief in Trance versunkene Person, die darin einen Stress um Leben und Tod in einer intensiv gelebten Zeitregression wiederholend, auf eine ganz normal gestellte Frage, die sich auf etwas Anderes bezieht (nämlich auf das Hier und Jetzt, das in meiner Praxis stattfindet), überhaupt eingehen kann? Ist das möglich, ohne dass sie dann aus der Hypnose zurück in den Wachzustand kippt? Kann man in zwei Welten gleichzeitig sein? Die wache Logik ist mit einer solchen Fragestellung überfordert.

Die Antwort ist darin zu finden, dass für einen Patienten, der in eine genügend tiefe Trance gesunken ist, nicht mehr die wache Logik, sondern die Trancelogik gilt, eine Logik die mit Widersprüchen ganz anders umgeht. Ein Hauptaspekt dieser Trancelogik ist das Wirken des heimlichen Helfers, des «hidden observers». Er ist uns schon in unseren Texten begegnet (z.B. «Den Raum füllen», Text 12). Zur Erinnerung: Er ist eine unerlässliche, unbewusste Ich-Funktion, die uns auch in tiefsten Trancen erhalten bleibt. Er sichert, auch wenn wir vollständig in der Innenwelt absorbiert sind und bewusst die Aussenwelt nicht mehr wahrnehmen, einen festen, unzerstörbaren und nicht bewussten Bezug zur Realität. So können wir auch Verhalten zeigen, die der Aussenwelt gerecht sind, wenn wir diese gar nicht mehr wahrnehmen. Mit anderen Worten vergisst unser Unbewusstes in Trance also nie, wo wir uns in der äusseren Realität befinden. Wenn wir also einer Patientin, die im Wiedererleben einer traumatischen Trance absorbiert ist, eine Frage zum Hier und Jetzt stellen, macht es als hypnotisches Phänomen absolut Sinn.

Die Existenz dieses heimlichen Helfers machen wir uns für die Therapie auch dadurch zunutze, dass wir gerade ihn durch unsere Präsenz festigen können. Gemeint ist folgendes: Ein Trauma wirkt definitionsgemäss tendenziell auf das Ich so heftig, dass der «hidden observer» im Moment überfordert und wacklig wird, bei schweren dissoziativen Zuständen sogar praktisch untertaucht, wenn auch nicht ganz verschwindet. Wenn die Patientin in ihrer Trance das Trauma wiedererlebt, müssen wir uns aber auf ihren «hidden observer» als Brücke zwischen Trauma und aktueller Realität verlassen können, denn nur mit seiner Hilfe kann es ihr gelingen, im hypnotischen Traumawiedererleben die schlimme Vergangenheit mit der schützenden Präsenz des Therapeuten im Hier und Jetzt zusammenzubringen. Aber gleichzeitig ist ja in der Altersregression auch die Wackligkeit des «hidden observers» ein Stück reaktiviert. Dies macht erforderlich, dass wir unsere Präsenz dem Fall entsprechend genügend intensiv spürbar machen, um uns dem «hidden observer» wirklich hörbar zu machen. Dies bedeutet, dass schon alleine die Tatsache, dass wir als Teil der aktuellen äusseren Realität eine Frage laut stellen – und so akustisch für den Patienten und für seinen «hidden observer» wahrnehmbar werden – letzterer unterstützt wird, aus seiner Wackligkeit wieder zurückzufinden. Er wird durch uns gewissermassen geboostert.

Übrigens: Gäbe es diesen «hidden observer» nicht, so wäre eine Traumatherapie gar nicht möglich. Denn jegliches Triggern einer Traumatrance käme einer glatten Retraumatisierung gleich, weil keine Verbindung zwischen dem emotional als Jetzt erlebten Trauma und der wirklichen aktuellen Realität zustande kommen könnte. Deshalb meinen viele Therapeuten, die das Phänomen des «hidden observers» nicht kennen, irrtümlicherweise in jeder aufkommenden Traumatrance – auch in der Therapie – eine Retraumatisierung zu sehen und bauen entsprechend dagegen komplexe und häufig recht unnötige Strategien auf.


Schluss

In meinen Überlegungen zur Behandlung von Frau J. habe ich vor allem auf die «magische» Frage nach dem Einverständnis fokussiert. Dabei hat sich eine Fülle von Aspekten der Traumatherapie eröffnet, die für das Wesen dieser Arbeit zentral sind.

Mir ist auch wichtig zu betonen, dass das gemeinsame Erarbeiten auf Augenhöhe einer gemeinsam akzeptierten «Theorie» absolut unerlässlich war, um uns mit der nötigen Sicherheit an dieses Wagnis einlassen zu können.

Mit meiner Erfahrung der Behandlung von Frau J. ausgerüstet konnte ich wenig später einer jungen Frau, die unter heftigsten Asthmaanfällen litt, auch erstaunlich schnell helfen. Sie musste seit geraumer Zeit etwa wöchentlich eiligst in die Notfallstation des Kantonsspitals für Sauerstoff und Cortison eingeliefert werden. In Hypnose konnte ich sie durch ein Kindheitserlebnis begleiten, in dem ihre eigene Mutter begonnen hatte – vermutlich als Versuch eines kollektiven Suizids – sie zu erwürgen, der Vater aber zufällig die Szene retten konnte. Über sieben Jahre lang war sie darauf völlig notfallstationsfrei geblieben. Allerdings besuchte sie das Asthma später für kurze Zeit wieder, als eine üble Trennung von ihrem Freund in Gang war. Auf diese Weise habe ich im Laufe der Jahre viele Male die Erfahrung gemacht, dass es hinter den unterschiedlichsten Symptomatiken darum gehen kann, einen Film zu entdecken, der immer nur in seiner ersten Hälfte läuft, und den es gilt im Schutz der Hypnose als Gesamtes wiederherzustellen.



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1«Ich unterrichte nicht, ich erzähle.» Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592)