«7 Minuten»

Vielleicht die simpelste und cleverste Selbsthypnosetechnik der Welt?


Techniken 9
"7 Minuten"

Text 34

«7 Minuten»:

Vielleicht die simpelste und cleverste Selbsthypnosetechnik der Welt?

Die kompliziertesten Dinge sind nicht immer die wirksamsten. Hier als Beispiel eine Selbsthypnosetechnik, einfacher geht es wohl kaum – die es aber in sich hat:

Das Rezept:

So einfach geht das Prinzip:

1. Man nehme ein Handy und stelle den Timer auf 7 Minuten ein.

2. Dann einfach mit geschlossenen Augen und bequem eingerichtet warten, bis es klingelt.

Oder ein wenig ausführlicher:

1. Richten Sie sich bequem ein, liegend oder sitzend, oder wie auch immer.

2. Graben Sie Ihr Handy hervor. Es braucht kein spezielles App.

3. Klicken Sie auf den Timer. Alternativ können Sie auch Siri oder Alexa herbitten.

4. Geben Sie 7 Minuten ein bzw. sagen Sie laut: «7 Minuten». Schliessen Sie die Augen, und los geht’s.

5. Bleiben Sie einfach liegen oder sitzen. Sie müssen jetzt strikt nichts tun, sich auch nicht zwingen, unbedingt nichts zu tun.

6. Wenn der Timer klingelt, wenn also die 7 Minuten abgelaufen sind, öffnen Sie die Augen und klicken Sie auf «Stopp». Wenn Sie sich eine zweite Runde gönnen möchten, klicken Sie auf «Wiederholen». In diesem Fall würden Sie wieder bei Punkt 4. weitermachen.

Dies ist alles. Mehr nicht.

Was soll hier passieren?

Es soll überhaupt nichts Voraussagbares passieren. Und dennoch werden Sie zwangsläufig Vieles erleben. Und jedes Mal etwas Anderes.

Wenn Sie ganz passiv bleiben,

  • …werden Sie das eine Mal unvermittelt einschlafen (7 Minuten sind immerhin 420 aneinandergereihte Sekunden, und wenn Sie müde sind…). Dann werden Sie vermutlich staunen, wie schnell die 7 Minuten vorbeigegangen sind: «Was? Jetzt schon?».
  • …werden Sie ein anderes Mal im Gegenteil das Gefühl haben, die sieben Minuten wollen nie enden. Sie kommen in Versuchung, auf Ihr Handy zu schauen, weil Sie sich fragen, ob Sie vielleicht doch vergessen haben den Timer zu stellen (reden wir da etwa von hypnotischen Zeitverzerrungen?).
  • …kann es auch sein, dass die Gedanken, die Sie soeben beschäftigten, zunächst weiter im Kreis herum brüten. Aber in der Zeitspanne von 420 Sekunden, die Sie mit geschlossenen Augen und in bequemer Stellung verbringen, kann es unmöglich lange unverändert so bleiben. Mit geschlossenen Augen werden die Dinge unabwendbar anders als im normalen Wachzustand. Auch wenn Sie dies erst im Nachhinein erkennen können, es wird sich etwas verändert haben.
  • …werden die Gedanken und Bilder vielleicht sogar emotional intensiver, und genau dies kann ja interessant werden, insbesondere wenn sich dabei vielleicht neue Zusammenhänge aufzeigen.
  • …können die kreisenden Gedanken in echtes Schlaf- oder Wachträumen übergleiten.
  • …oder es poppen Ihnen ganz unerwartete Gedanken oder Erinnerungen auf, oder Gefühle steigen auf, die Sie in diesem Augenblick nie erwartet hätten. Plötzlich ist eine kreative Lösung für irgendeine Frage da, die Sie in ganz anderem Zusammenhang beschäftigte.
  • …oder es melden sich unerwartete Körperwahrnehmungen, die sich bei weiterer Beobachtung als bedeutungsvoll erweisen können.
  • …oder… oder… oder


Sie dürfen auch aktiver einsteigen, und dann...

  • …nehmen Sie sich ein Thema vor und grübeln zunächst einmal ganz aktiv daran herum. Was absolut sicher ist, Ihre Gedanken werden sich innerhalb der 7 Minuten zwangsläufig irgendwie ändern, aber wie? Plötzlich weg? Plötzlich emotional anders? Das verspricht spannende Momente!
  • …steigen Sie mit einem «Safe-place», mit einer «Lichtdusche» oder sonst irgendeiner anderen Standardselbsthypnosetechnik ein, und lassen Sie die Dinge sich entwickeln. Es wird spannend, wo sie nach 420 Sekunden gelandet sind.
  • …versuchen Sie es mit der 3D-Technik (s. Texte 13, 14, 16) und lassen Sie sich überraschen, wie weit Sie überhaupt kommen…


Genau dies ist der Kern und das Spannende an dieser Technik: Es kann eigentlich nur Überraschungen geben. Und Sie fühlen sich danach immer anders als vorher, oft erstaunlich erholt.

Bemerkung: Zunächst sieht die Aufgabe ähnlich aus wie Achtsamkeitsübungen. In beiden Methoden müssen Sie nichts, weder sich entspannen, noch sich auf etwas Besonderes konzentrieren, noch etwas erwarten. Der Unterschied ist aber: Sie brauchen in diesen 7 Minuten nicht einmal achtsam zu sein… Eigentlich geht es hier um eine quasi auf die Spitze getriebene Selbstexploration (s.a. die Texte «Explorer» 1-4, 21), in der einfach geschehen soll, was geschieht, und das kommt, was kommt. Und genau genommen kommt die Überraschung erst im Nachhinein, wenn die 7 Minuten abgelaufen sind, und Sie feststellen, wo Sie angekommen sind.

Wozu soll dies nützlich sein?

- In der Regel ist ein unmittelbarer und – bezogen auf eine solch kurze Übungszeit – erstaunlich hoher Erholungseffekt spürbar.

- Allein schon die «7 Minuten» durchzuführen wirkt als Zäsur im Arbeits- oder Tagesablauf, eine Atempause, die einen bemerkenswerten «Reset»-Effekt bringt. Besonders wenn wir drohen, uns im Kreis zu drehen, sind schon sieben Minuten Pause Gold wert.

- Sich diese Zäsur mit der «7 Minuten»-Technik zu erlauben ist umso einfacher als sie durch den Timer Ihres Handys zeitlich perfekt kontrolliert ist. Dies senkt die Schwelle, sich die Erlaubnis dazu zu geben, deutlich.

- Diese Sicherheit erlaubt viel einfacher ein kurzzeitiges, vollständiges, inneres Loslassen.

- Wenn Sie die «7 Minuten» über eine gewisse Zeit anwenden, werden Sie mit der Zeit eine beträchtliche Palette verschiedener Bewusstseinszustände entdecken, in denen Sie sich auf eine originelle Art selber widerspiegelt finden werden. Sich dessen gewahr zu werden, lässt das eigene Innenleben als immer bunter erleben. Es kommt also ein völlig bionomer1 Explorationsprozess unserer selbst in Gang.

- Auf diese Weise machen Sie sich mit Dingen vertraut, die aus Ihrem tiefsten Selbst entstehen: ein Weg zu grundlegenden Schichten des Selbstvertrauens – ganz wörtlich.

Die «7-Minuten»-Perlenkette

Sollten Sie einmal mehr als nur 7 Minuten Zeit zur Verfügung haben, und fühlen Sie sich zudem müde, steht nichts im Weg, dass Sie mehrere «7 Minuten» aneinanderreihen. Zum Beispiel für eine Mittagspause oder für eine Zugfahrt. Dann werden Sie einfach statt den Timer abzustellen auf Wiederholen tippen und die Augen wieder schliessen. Denken Sie nicht, dass jetzt beim zweiten Mal alles wieder deckungsgleich wird. Im Gegenteil, es wird mit Sicherheit eine neue Überraschung geben. Hat Sie beispielsweise beim ersten Mal der Schlaf gegen Ende eingeholt, so kann es sein, dass sie bei der zweiten Runde fast unmittelbar wieder einschlafen. Das dritte Mal bringt Sie vielleicht in einen wachen und inhaltslosen Alpha-Zustand. Und beim vierten Wiederholen spüren Sie wieder das Bedürfnis, aktiv zu werden. Dies ist der beste Moment, um die Perlenkette zu beenden. Vier mal sieben gibt achtundzwanzig. In weniger als einer halben Stunde fühlen Sie sich von innen heraus erholt und haben wieder Lust tätig zu werden, und zudem haben Sie eine interessante Reise gemacht. Die Abfolge der Erfahrungssequenzen kann auch ganz anders aussehen, hier sind keine Grenzen gesetzt.

Übrigens wird häufig berichtet, dass zweimal 7 Minuten mehr Erholung bringen als einmal 15 Minuten oder drei Durchgänge mehr als 20 Minuten. Dies mag wohl erstaunen, aber eine Erklärung dafür könnte sein, dass diese 7-Minuten-Portionen verhindern, dass man zu tief abtaucht. So wird auch das Risiko eines arteriellen Hypotonus nach einem Powernap vermieden. Daneben können wir hier auch eine Parallele zur Fraktionierung der Hypnose sehen.

Welche Wirkfaktoren machen diese Technik aus?

- Allein das Schliessen der Augen und das bequeme Einrichten Ihres Körpers verändert Ihren Bewusstseinszustand durch eine gewisse Drosselung des Informationsflusses von aussen: Es entsteht ein geschützter innerer Raum. Dies ist nichts anderes als eine Form von Selbsthypnose mit allen Qualitäten, die sie ausmachen, eingeleitet durch eine allereinfachste Induktion.

- Wenn Sie den Timer einstellen, findet etwas ganz Entscheidendes statt, das auf den ersten Blick nicht spektakulär erscheint, aber von enormer Bedeutung ist: Mit dem Klick auf «7 Minuten» delegieren Sie die Kontrolle der Zeit an eine äussere Instanz (einverstanden, es klingt etwas seltsam, ein Handy als Instanz zu bezeichnen…). Entscheidend ist, dass nicht mehr Sie die Verantwortung und die Kontrolle für den zeitlichen Ablauf während dieser Übung bei sich behalten müssen. Sie können sich völlig frei von zeitlichen Fesseln und in aller Ruhe dem spontanen Fluss der Zeit hingeben. Bei üblichen Selbsthypnosetechniken oder beim Autogenen Training bleibt ja dem Übenden immer eine gewisse Verantwortung des Timings. Wenn ich hingegen «7 Minuten» im Handy einstelle, bin ich ganz sicher, dass es wirklich nicht länger (und auch nicht kürzer) wird, und somit kann ich mich von der Zeit verabschieden. Ein ganz gewichtiger Faktor für eine gute Selbsthypnose…

Warum gerade 7 Minuten?

Immer wieder kommt die Frage, weshalb gerade 7 Minuten und warum nicht 6 oder warum nicht 8. Natürlich basiert diese präzise Anzahl Minuten nicht auf evidenzbasierten oder neurobiologischen Studien (wenn jemand Lust dazu hat, bitte, das Resultat würde mich sehr interessieren…). Ich gehe rein intuitiv davon aus, dass «5 Minuten» nach «ganz wenig», nach «nur im Vorbeigehen», nach «nicht Ernstnehmen» klingt. «2 Minuten» schafft schon fast Stress, weil die Frage lauert: «In 2 Minuten soll jetzt unbedingt etwas geschehen und schaffe ich das?». «10 Minuten» hingegen klingt bei einem dichten Programm schon als Kampfansage, etwas was man sich beileibe ausgerechnet jetzt nicht leisten kann. Für mein Gefühl passt eben 7 Minuten als Mittelweg ganz intuitiv am besten2. Und «7» soll erst noch eine heilige Zahl sein… Aber machen Sie es völlig nach Ihrem Gusto.

Wie diese Technik einem Patienten vermitteln?

Ich hatte mit viel Hingabe und Überzeugung versucht, Herrn F., einem Ingenieur mit heftigen Ängsten und einer Neigung sich zu überfordern, die «7 Minuten» schmackhaft zu machen, und in meinen Augen passte es super in den Kontext. Er hatte meinen Ausführungen mit einer unübersehbaren aber aus Respekt maximal unterdrückten Skepsis zugehört. Seine Gedanken, die er verschwieg, schienen etwas wie «Dämlich einfach. Hält er mich für blöd?» auszudrücken. Folgsam versprach er aber, es auszuprobieren. Als er Wochen später wieder einmal völlig erschöpft und hoffnungslos war, und ich vorsichtig nach seinen Erfahrungen mit den «7Minuten» fragte, kam die Wahrheit zutage: Nicht ein einziges Mal versucht. Seine Erklärungen erspare ich Ihnen.

Aus dieser Erfahrung habe ich gelernt, dass es günstig ist, gleich nach dem Erklären der Technik den Patienten zu fragen: «Wären Sie einverstanden, jetzt gleich sieben Minuten unserer Stunde einem Experiment zu opfern, um es hier und jetzt auszuprobieren?» Ich gestehe, ich versuche hier, den Bonus der Autorität meiner Präsenz zu nutzen, aber es ist ja für einen guten Zweck…

Ich holte dies also beim zweiten Anlauf mit Herrn F. nach, erklärte ihm die Sache nochmals und lud ihn ein, jetzt einzusteigen. Er schloss die Augen, richtete sich bequem in seinem Sessel ein und legte los. Ich hielt ihn auf: «Herr F., Sie haben etwas vergessen.» Verdutzt öffnete er die Augen wieder und sah mich fragend an. «Das Handy und der Timer.» Er hatte signifikanterweise das Wichtigste ausgeklammert. Er kramte sein Handy aus seiner Hosentasche hervor, stellte nun seinen Timer ein, und jetzt starteten die sieben Minuten (die ich übrigens mit Neugier mitmachte: Denn was bei mir aufkommen würde, würde zwangsläufig im Zusammenhang mit seiner Präsenz stehen und war vielleicht von therapeutischem Interesse). Die sieben Minuten verstrichen. Aber sowohl Herr F. wie ich hatten nicht daran gedacht, den Klingelton nicht auf maximaler Lautstärke zu lassen, sodass wir beide aufsprangen, als er losging (eine gute Gelegenheit, es das nächste Mal besser zu machen!). Herr F. war über das, was er erlebt hatte, perplex und nachdenklich: Von den Raben, die er vor dem Fenster meiner Praxis krähen hörte, war er ganz natürlich zu den Problemen mit seiner streitsüchtigen Frau gekommen, von dort abgeschweift zum Joggen im Wald am Morgen, zu seiner Jobsuche, zu seinen Kindern, dann waren für eine Weile die Bilder verschwunden und dafür Herzklopfen aufgetaucht, was ihn offenbar zu seinem Vater führte, mit dem er aktuell ein sehr ambivalentes Verhältnis pflegte, um schliesslich bei einem zutiefst berührenden Kindheitserlebnis mit ihm zu landen. Von da weg blieben ihm keine Erinnerungen bis zum Punkt, wo ihn der Klingelton aus seiner Trance aufschreckte. Allgemein fühlte er sich aber innerlich erstaunlich still und ruhig.

Natürlich hatte er dies alles in und zum Teil dank meiner Gegenwart erlebt – es war also keine Selbsthypnose im strengen Sinn – aber immerhin versprach er (und ich glaube, er tat es sich selber gegenüber), diese Übung täglich einmal zu machen. «Nur einmal? Weshalb nicht fünfmal?», fragte ich ihn, überliess es aber ihm.

Zum Schluss

Nun sind Sie angekommen, Sie haben den ganzen Text gelesen. Wie viel Zeit haben Sie dafür aufgewendet? War es anstrengend? Könnte ein bisschen Erholung schaden? Könnte es vielleicht sogar eine hilfreiche Idee sein, sich ein paar Minuten – zum Beispiel sieben – zu nehmen, um das Gelesene zu verinnerlichen und Ihre eigenen Assoziationen dazu kennenzulernen? Was haben Sie jetzt als Nächstes vor? Wie wäre es, wenn Sie also jetzt… eine «7 Minuten»-Pause einlegen würden, jetzt gerade? Haben Sie jetzt Zeit dafür? Wirklich nicht? Was wären die Folgen gewesen, wenn Ihre Lektüre sieben Minuten länger gedauert hätte? Überlegen Sie sich, wie Ihr weiterer Tagesplan konkret aussehen würde, wenn Sie jetzt eine «7Minuten»-Pause einlegen würden, und wie, wenn Sie darauf verzichten. Sie können sich jetzt frei entscheiden.



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1 «bionom» (griechisch «bios» Leben und «nomos» Gesetz) stammt aus der Sprache der Autogenen Psychotherapie und will ausdrücken, dass ein Vorgang von innen heraus, direkt aus dem Leben, nach den Eigengesetzlichkeiten der inneren Natur entsteht, und nicht durch Techniken oder Willen gesteuert wird.

2 Vielleicht spielt bei meiner Präferenz unbewusst auch eine Rolle, dass es in Thomas Mann’s «Zauberberg» eine wunderbare Stelle gibt, in der sich Hans Castorp für sieben Minuten einen Fieberthermometer in den Mund stecken muss. Die Schilderung, was in diesem Menschen in dieser Zeit vorgeht, liest sich (ich habe es mit der Uhr nachgemessen) in genau sieben Minuten. Wahrlich meisterhaft geschrieben! Mein Text ist leider deutlich länger geworden…