Explorer


Das „konsequente, interaktive Explorieren“:

ein entscheidendes Prinzip in der Hypnosetherapie


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Text 1

0. Intro


„Explorer“ ist der Obertitel einer Serie von Texten, in denen ich meine Sicht eines absolut zentralen Themas in der Hypnose - und überhaupt in allen Formen von Psychotherapie - vorstelle. Das „konsequente, interaktive Explorieren“ stellt nicht nur eine fundamentale Haltung dem Patienten und der Hypnose gegenüber dar. Es wird darüber hinaus zu einem eigentlichen, therapeutischen "Instrument", das in jeder Form von Hypnoseanwendung als Grundlage seinen Platz findet. Ein erstes Paket von acht Texten präsentiert dieses Prinzip in seinen praktischen und theoretischen Grundzügen.


1. Entstehung und Bedeutung

Meine lange Suche

... und ich wurde fündig


2. Worin besteht konkret das Prinzip des „konsequenten, interaktiven Explorierens“?

Explorieren?

„Alles, was ich tue ...“

Explorieren in der Hypnose

Nicht nur in der psychotherapeutischen Hypnose ...

Explorieren auch ausserhalb der Hypnose

Zwei Arten von explorieren ...

Wonach suche ich?

Selbstexploration?


3. Genug der Theorie: Werden wir jetzt konkret!

"Augen zu!"


4. Der zweite Schritt in die Exploration ohne Ende

Erstes Beispiel einer Reaktion der Patientin: Sofortiger Augenschluss ...

Spezielle Reaktionen der Patientin ...

Und wenn die Patientin anders reagiert: Die Augen sind zugepresst ...

Und noch ein Beispiel: Der stiere Blick ...

Der Lebensbaum ...


5. Explorieren als Haltung und Methode in der Hypnosetherapie

Vortrag gehalten in Bad Kissingen (MEG Jahrestagung 2019)

Das Prinzip des "konsequenten, interaktiven Explorierens"

Überlegungen

Suggestion

Wirkungen

Vorzüge

Voraussetzungen

Fassen wir zusammen ...




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1. Entstehung und Bedeutung

Meine lange Suche ....


Bei meinen ersten Schritten als Psychiater, als neugieriges Entlein, das fleissig im Teich der Psychoanalyse gründelte, aber auch schon gleichzeitig seine kecken Flügelchen hin zur Hypnose ausstreckte, musste ich gleich feststellen, dass ich mit meinem kleinen Schnabel in einem furchtbaren Dilemma stecken blieb.

Dieses erschien mir anfänglich auch als völlig unlösbar: Die ernsten Psychoanalytiker lehrten mich, Hypnose sei nichts als üble Manipulation und somit verderbliches Einmischen in das Unbewusste des Patienten1. Zudem wussten sie, dass Hypnose ja höchstens Scheinheilungen bewirken konnte. Ich lernte auch, „Agieren“ und „Mitagieren“ als Schimpfwörter zu betrachten, und dass nur erhabene, schweigende Zurückhaltung, mit sparsam eingestreuten Deutungen, zum wahren Ziel führen könnte. Gleichzeitig aber bearbeiteten mich meine selbstbewussten hypnotischen Mentoren, ein Herumliegen auf der analytischen Couch sei reiner Zeitverlust und koste nur viel Geld. Sie ermahnten mich, mit dem Erlernen der Hypnose zügig voranzuschreiten, denn mit scharf eingesetzter Suggestivkraft – so versicherte man mir – erziele man viel schnellere und präzisere Erfolge. Na, bitte schön, und jetzt? Da blieb mir nichts anderes übrig als zwischendurch immer wieder zu meinem sicheren Ufer hinzurudern, dort mein Schwänzchen zu rütteln, das Wasser von meinen Federn abzuschütteln, ein paar Schritte wieder auf festem Boden zu watscheln, und dann zu sinnieren... Das war vor bald vierzig Jahren.

Mein Ufer, bzw. mein Festland, war von Kindsbeinen an eine mir angeborene Denkweise: Bei allem, was man mir sagte, schoss mir wie durch Zwang automatisch die Frage auf: „Stimmt das wirklich?“. So entging es auch meinen naiven Augen nicht, dass von beiden Schulen weder die eine noch die andere Position der wirklichen Realität gerecht werden konnte. Beide waren einander punkto Enge und Undifferenziertheit ebenbürtig. Gleichwohl musste an beiden Standpunkten auch etwas Wahres dran sein. So leuchtete mir in der Skepsis der Analytiker absolut ein, dass jeder Versuch, einen Menschen und insbesondere einen Patienten zu manipulieren, sei es in noch so guter Absicht und in der aufrichtigen Meinung, es sei für ihn nur das Beste, wohl schnell auf Glatteis führen und sogar gefährlich werden konnte. Insofern war im Umgang mit der Hypnose mit Bestimmtheit Vorsicht geboten. Ebenso war für mich nachvollziehbar, dass Patienten genau aus ihren Pathologien heraus dazu neigen, uns Therapeuten2 in ihre Muster einzubinden und so unbewusst zu manipulieren und zu instrumentalisieren, und dass es der Therapie nicht gerade dienlich ist, wenn wir da unreflektiert mitrennen. Und dann fand ich mit dem besten Willen auch keine konkrete Vorstellung dazu, wie eine „suggestive Kraft“ im Therapeuten beschaffen sein konnte, mit der dieser einen Patienten hätte vollpumpen können.

Zum andern regten sich in mir Zweifel bezüglich der psychoanalytischen Behandlungsmethode, ob wirklich einzig das klassische Setting – hunderte von Stunden reden müssen, weitgehend sich selbst überlassen, immer eingehüllt in das bedeutungsschwangere Schweigen des Analytikers – habilitiert war, echte und dauerhafte Fortschritte möglich zu machen. Meine eigene Lehranalyse hat mir wohl ganz fundamentale Entwicklungsschritte ermöglicht, aber ich könnte nicht beteuern, dass es in ihr nie Phasen der Stagnation gegeben hätte, in denen eine Prise Hypnose nicht ein Brise Fahrtwind hätte aufziehen lassen ... ohne Nachteile. Was ich als Analysand freilich nie hätte vermissen wollen, war die uneingeschränkte Selbstbestimmung, die mir überlassen war, wie auch der bedingungslose, wohlwollende Respekt, den mir mein Analytiker entgegenbrachte.

Gab es eine Möglichkeit, aus den Vorteilen der beiden Methoden eine Wunderlegierung zusammenzuschmelzen? Die Tiefenpsychologie mit der Hypnose zu verknüpfen? Das Gold der Analyse mit dem Kupfer der Suggestion zu legieren, wie Freud – nicht ganz unvoreingenommen – meinte? Tatsächlich hatte es schon unter dem Namen „Hypnoanalyse“ oder ähnlichen Bezeichnungen eine Reihe von Vorstössen gegeben, die in unterschiedlichen Ausformungen hypnotisches Handwerk mit analytischem Denken zu verbinden suchten. Und so probierte ich mir denn diese Kleider auch eine gewisse Zeit an, wurde dabei aber nie wirklich glücklich. Auch diese empfand ich immer noch als zu eng. Sie waren nicht auf mich zugeschnitten. Ich musste weitersuchen

... und ich wurde fündig

Endlich deutete sich nach langen, durstigen Jahren am Horizont meines Geistes ein Schimmer an, zuerst nur eine Morgenröte, eine Hoffnung, die sich um einen noch undeutlich fassbaren Begriff rankte, allmählich immer deutlicher Gestalt annahm und schliesslich als Flutlicht meine gesamte Arbeit erhellte und zur Grundlage meiner gesamten therapeutischen Denkweise wurde: „Explorieren“. Explorieren, im Dienste des Patienten. Nicht analysieren, nicht manipulieren, einfach explorieren. Je länger ich mich mit diesem neuen Blick beschäftigte, die Sache von allen Seiten betrachtend und durchdenkend, desto mehr erwies sie sich in meinen Augen gleichsam als die lange gesuchte Quadratur des Kreises: Sie verband ohne Kompromiss und ohne sich durch Theorien einengen zu lassen die Vorzüge der beiden verfeindeten Methoden. Wirksamkeit, Unvoreingenommenheit, Neugier, Verständnis, Interesse, Respekt, Belassen und sogar das Fördern von Freiheit und Selbstbestimmung, aktive Fürsorge, autonome Entwicklung und Entfaltung, lebendige Dynamik – ausnahmslos Werte, die mir in meiner Arbeit als Arzt und Psychotherapeut fundamental wichtig sind, finden sich im Explorieren zusammengefasst. Aus dem Dümpeln im Ententeich wurde nun ein Stechen in See...

In meiner Arbeit als Psychiater ist diese Haltung des Explorierens für den Zugang zu den Patienten heute so bestimmend geworden, dass es für mich zwingend erschien, den ersten Text meines Blogs diesem Thema zu widmen. Nicht nur in meiner eigenen, täglichen Praxis leuchtet dieser Begriff wie ein Leuchtturm über meiner Arbeit, sondern auch meine Supervisionen und Ausbildungsseminare sind mittlerweile davon beherrscht, wie durch einen allgegenwärtigen Ohrwurm, eine Art „Ostinato“ oder ein „Basso continuo“, eine tragende und bewegende Grundwelle in der Therapie. Und welches Instrument eignet sich mehr als die Hypnose, um dieses Explorieren umzusetzen?

Als Bezeichnung für diese therapeutische Einstellung hat sich einstweilen die Bezeichnung „Prinzip des konsequenten, interaktiven Explorierens“ durchgesetzt. Das „konsequente, interaktive Explorieren“ bezeichnet nicht nur eine therapeutische Haltung, sondern auch gleichzeitig eine Form von therapeutischem Handeln. Eigentlich besteht es ganz einfach darin, dass ich alles, was ich in der Hypnose tue oder lasse, unbeirrbar und mit absoluter Konsequenz ausschliesslich in den Dienst der Exploration des Innenlebens des Patienten stelle, und dass ich mich durch nichts davon abbringen lasse.

Grundsätzlich ist die Idee, einen Patienten im Rahmen einer Hypnosetherapie zu explorieren und dem eine wichtige Rolle beizumessen, nicht umwerfend neu. Jeder anständige Hypnosetherapeut wird ja als Erstes sein Augenmerk auf die Exploration des Patienten richten, d.h. er wird sich nach seinen Anliegen, seiner Lebensgeschichte erkundigen, seine Persönlichkeit erforschen und nach Befunden suchen usw., um sich dann auf dieser Basis einen Therapieplan ausdenken zu können. So betrieben dient das Explorieren der Erstellung eines Therapieplans, um dann, im nächsten Schritt, eine Behandlungsmethode – beispielsweise die Hypnosetherapie – planmässig und folgerichtig einsetzen zu können.

Ganz im Gegensatz dazu ist das „konsequenten, interaktiven Explorierens“ selber therapeutische Methode. Es ist selber Therapieplan und wirkt selber als das zentrale therapeutische Agens.

Die folgenden Texte beschränken sich erst einmal darauf, einen nachvollziehbaren Grundriss des Prinzips des „konsequenten, interaktiven Explorierens“ zu zeichnen. Spätere Texte werden dann spezifischere Aspekte vertiefter ausarbeiten und Anwendungsbeispiele beschreiben.



„Que sais-je?“

(„Was weiss ich?“, Michel de Montaigne, 1533-1592,

Essais, livre II, chapitre 12)


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1 Patient: Mensch der leidet und kompetente Hilfe sucht

2 Therapeut: Mensch, der sich leidenden Menschen dienend und kompetent zur Verfügung stellt



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2. Worin besteht konkret das Prinzip des „konsequenten, interaktiven Explorierens“?

Explorieren ?

Das Fremdwort „explorieren“ bedeutet etwa soviel wie auskundschaften, erkunden, forschen, erforschen, ausfindig machen, befragen, zu ergründen suchen, nachgehen, nachspüren, entdecken... „Explorieren“ hat immer etwas mit „suchen“ zu tun und drückt somit eine gezielte Aktivität aus, die zu neuen Erfahrungen, Erkenntnissen und zu Entdeckungen führen soll. Wenn ich suche, weiss ich noch nicht, und wenn ich weiss, suche ich nicht mehr. Im Explorieren ahne ich und suche. Mit dem Explorieren will ich mich mit Unbekanntem vertraut machen, will es zähmen.

Dies ist auch der Geist, der beispielsweise die frühen Afrikaforscher ins Abenteuer trieb, die weissen Flecken auf der Landkarte – sprich das von Menschenauge noch nie Gesehene – zu erkunden (ich hoffe, es war auch wirklich so...). Suchen erfordert Mut, und auch Demut – nicht die devote, kriechende Demut der Unterwürfigen, sondern die aufrechte Demut des bewusst Nicht-Wissenden.

„Alles, was ich tue ...“

Das Prinzip des „konsequenten, interaktiven Explorierens“ lässt sich in seiner Gesamtheit zu einer ganz einfachen Formel zusammenzurren: „Alles, was ich tue, nicht tue, sage oder nicht sage, dient ausschliesslich und in aller Konsequenz dem Explorieren verborgener Schätze im Patienten.“ Mit „ausschliesslich“ ist gemeint, dass auch die minimsten, wohlmeinenden, therapeutischen Gelüste des Therapeuten, die den Gang der Therapie in eine bestimmte Richtung zu steuern versuchen, auszuschliessen sind. Explorieren ist das Gegenteil von Vorurteil. Sich auf Vorerfahrungen abzustützen, um eine gewisse Prognose abwägen zu können, ist nicht verwerflich. Wenn aber meine Vorerfahrung – oder noch schlimmer: angelesene oder von Meistern übernommene Thesen – auf die Stufe „Wissen“ erhoben werden, dann wird es verhängnisvoll. Dann erblinde ich für das, was ich nicht weiss und irre im Dunkeln meines vermeintlichen Wissens. Ich laufe dabei grösste Gefahr, genau das, worum es in der Therapie gehen müsste, zu übersehen. Mit andern Worten, explorieren heisst, das Licht meiner Neugier und mein ganzes Augenmerk auf das Unbekannte zu richten. Im Extremfall brauche ich als Therapeut nicht einmal zu wissen, wo das Problem des Patienten liegt, und mit explorierender Hypnose kann ich weiterhelfen.

Das Motto „Alles, was ich tue...“ bezieht sich auf alle Ebenen meiner Interaktionen mit dem Patienten. Das Explorieren betrifft nicht allein die Reaktionen des Patienten auf die semantischen, verbalen Inhalte, die ich übermittle. Eine nicht geringere Wichtigkeit hat das, was meine Verhaltensweisen auslösen. Ob ich stumm bleibe oder ob ich etwas sage, was ich dann sage und in welchen Worten ich es sage, mit welcher Stimmlage, Mimik oder Gestik, alles hat seine Wirkung in der Kommunikation und löst eine Reaktion aus. Egal welche Mittel ich einsetze, jede Reaktion des Patienten wird mir etwas über ihn erzählen.

Explorieren in der Hypnose

Vom Anfang der Induktion bis zum Ende der allfälligen Nachbesprechung einer Hypnose ist alles Exploration. Diese Sichtweise „verzaubert“ auch das Verständnis des Begriffs „Suggestion“. Allgemein werden Suggestionen als „manipulative Beeinflussung eines Menschen, mit dem Ziel, ihn zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen“ betrachtet. Dieses Manipulative lässt ihnen einen recht üblen Geruch anhaften, den sie aber im Kontext des „konsequent, interaktiven Explorierens“ vollständig abgeben können. Sie entfalten sich dann zu interessierten Fragen, die weder manipulativ noch rhetorisch sind. Sie sind Fragen, die sich an das Unbewusste des Patienten richten, und die ausgedeutscht etwa folgendermassen zu formulieren wären: „Wie reagierst du (Unbewusstes) wenn ich dir dies oder jenes vorschlage? Ich bin gespannt.“.

Aus der explorierenden Haltung heraus eingebrachte hypnotische Interventionen können nicht mehr als „gut“ oder „weniger gut“, oder sogar „schlecht“ eingestuft werden. Sie können ebenso wenig „richtig“ oder „falsch“ sein, bzw. das „Richtige“ oder das „Falsche“ auslösen. Diese Dichotomien werden hinfällig. Denn in jeder Antwort oder Reaktion lässt sich etwas therapeutisch Aufschlussreiches entdecken. Dies gilt im genau selben Masse, ob ich eine reine, explorative Hypnose verfolge, mich also von einer Reaktion des Patienten zur nächsten treiben lasse, oder ob ich mich an den festen Ablauf einer definierten Hypnosetechnik – beispielsweise die 3D-Methode – halte.

Nicht nur in der psychotherapeutischen Hypnose ...

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die konsequent explorierende Haltung ist in keiner Weise dem Psychotherapeuten, der in seiner Arbeit Hypnose anwendet, vorbehalten. Auch alle Ärzte, die Hypnose in „handwerklicher“ Weise praktizieren – damit meine ich Arbeitsweisen, die nicht unbedingt die Tiefen des Patienten ergründen wollen, oder deren erstrangige Zielsetzung nicht langfristige Entwicklungen im Umgang mit Emotionen sind – also auch der Zahnarzt, der Anästhesist und der Somatiker können von der konsequent explorierenden Haltung nur profitieren, zumindest im Hintergrund: „Ich bin gespannt, wie sich diese Person anästhesieren kann, was sich alles anbieten wird.“, „Wie wird sie sich wohl entspannen? Wie wird sie es für sich nutzen können?" usw.

Explorieren auch ausserhalb der Hypnose

Nicht erst mit dem Beginn der Hypnose, schon beim Betreten des Wartzimmers für die erste Begrüssung meines neuen Patienten läuft meine explorierende Aufmerksamkeit auf Hochtouren: „Spannend! Wie sitzt er? Oder steht er im Raum einfach herum? Wartet er lesend, oder verträumt, oder ungeduldig? Wann und wie nimmt er mich wahr? Wie reagiert er auf meinen Gruss?“ Dann finden natürlich auf dem Weg zum Sprechzimmer noch eine unüberschaubare Menge spannender, averbaler Interaktionen zwischen uns statt. Schon sind wir mitten im „konsequenten, interaktiven Explorieren“, jetzt zwar noch ohne grossen Wortwechsel und alles noch ziemlich im Dunkeln webend. Aber es sammelt sich bereits ein unglaublich reicher und richtungsweisender Fundus an Informationen für später an.

Zwei Arten von Explorieren

Um es nochmals klarzustellen, das „konsequente, interaktive Explorieren“ ist nicht mit der diagnoseorientierten, ärztlichen Patientenexploration gleichzusetzen. Bei dieser geht es um ein Fahnden nach Symptomen und Beschwerden mit dem Zweck einer diagnostischen Einordnung. Sie ist zeitlich begrenzt und findet dann einen zumindest vorläufigen Abschluss, wenn das Erstellen eines Therapiekonzepts möglich wurde.

Beim „konsequenten, interaktiven Explorieren“ hingegen handelt es sich um eine mitlebende und mit antreibende Suche, die dem Patient als Person gilt, seinen Geheimnissen, sogar denen, die er vor sich selber hat, seinen Eigenheiten, seiner Beziehung zu sich selber und zu den Anderen. Sie ist eine Suche, die nach verborgenen Ressourcen forscht und sich zeitlich unbegrenzt weiterzieht, so lange wie die Therapie dauert, als unaufhörlicher Entdeckungs- und gleichzeitiger Entwicklungsprozess.

Wonach suche ich?

In der Anwendung des „konsequenten, interaktiven Explorierens“ interessiere ich mich nicht in erster Linie für den semantischen Inhalt verbaler Antworten des Patienten, also beispielweise ob seine Antwort „ja“ oder „nein“ ist, oder für den Inhalt bzw. den Wahrheitsgehalt der Geschichte, die er mir erzählt. Was mir der Patient in seinen Worten mitteilt, nehme ich natürlich genau zur Kenntnis, doch hat es für mich nicht unbedingt den Wert einer massgebenden, baren Münze. In seinen Erklärungen teilt er mir nämlich nicht mehr mit, als seine bewussten Konzepte über sich selbst. Viel bedeutungsträchtiger wird aber das Explorieren und das Kennenlernen seiner bewusstseinsferneren und ganzheitlichen Reaktionen. Mich nimmt das „Wie“ er antwortet weit mehr wunder als das „Was“ er antwortet. Denn darin werden sich im Laufe der Zeit viel eher wertvolle Entdeckungen von unbekannten Ressourcen machen lassen.

Selbstexploration?

Nicht zuletzt ist das „konsequente, interaktive Explorieren“ ein Anlass, sich als Therapeut auch selber zu explorieren. Es gibt wahrscheinlich nicht viel Langweiligeres als ein Therapeut zu sein, der anwendet, was er „weiss“, und sich selber nicht hinterfragt. Er wird sich bei vielen Patienten mit ihrer vermeintlichen „non-compliance“ herumschlagen müssen, und dafür wird dann möglicherweise sein eigenes Burnout zur Krönung seiner Karriere.

Schon die kleinste Interaktion mit einem Patienten bietet eine wundervolle Gelegenheit, sich die Frage zu stellen: „Und wie reagiert denn mein Unbewusstes hierauf?“. „Spannend, dass mir gerade dieses Bild eingefallen ist!“ oder „Spannend, dass mich das ärgert.“ oder „Aha, da wird es mir unwohl.“ Wichtig ist hier in jedem Fall, nicht zu schnell verstehen – sprich einordnen – zu wollen („Klar, das ist weil ...“). Ich darf und soll mir Zeit lassen zu unterscheiden, welcher Anteil meiner Reaktion eigentlich dem Patienten gehört, und den Teil wahrzunehmen, der vor allem etwas über mich aussagt. So gebe ich mir als Therapeut eine Chance, mich selber zu erforschen und - wertschätzend - kennen zu lernen und mich so in meiner Persönlichkeit weiter zu entwickeln ...




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3. Genug der Theorie: Werden wir jetzt konkret!

An einem imaginären und dennoch durchaus realistischen Beispiel möchte ich jetzt veranschaulichen, wie man sich das „konsequente, interaktive Explorieren“ in der hypnotischen Praxis in etwa vorzustellen hat. Bei der beschriebenen Situation kann es sich ebenso gut um eine Ersthypnose wie auch um eine Sitzung irgendwann im Verlauf der Therapie handeln. Die Szene spielt sich in einem eher psychotherapeutischen Kontext ab, aber die Grundhaltung bleibt eigentlich in jedem Setting dieselbe. Exploriert werden muss nicht zwangsläufig die ganze Lebensgeschichte und die tiefere Problematik eines Menschen, sondern die Suche gilt grundsätzlich allen vorhandenen und noch verborgenen Ressourcen, insbesondere wenn es auch nur um die geht, die nur jetzt im Moment gefragt sind: Ein Zahnarzt mit einem verängstigten Patienten vor sich will ihm z.B. einfach jetzt, ohne Umwege, das Liegen mit aufgesperrtem Rachen erträglicher machen. Es reicht da vollends, die Ressourcen zu entdecken, die genau das ermöglichen.

„Augen zu!“

Nehmen wir an, mir gegenüber sitzt eine Patientin, mit egal welchen Problemen, und aus der aktuellen Situation heraus kommt mir der Gedanke auf, eine Hypnose könnte jetzt passend sein. Ich frage sie also ganz einfach, ob sie einverstanden sei, die Augen zu schliessen und sich körperlich bequem einzurichten. Diese Frage stelle ich unbedingt im authentischen Tonfall einer echten – und nicht rhetorischen! – Frage. Mein ganzer Ausdruck muss kommunizieren, dass es ihr wirklich völlig offensteht, ob sie die Augen schliessen möchte oder nicht.

Ich selber muss mir also in meinem Innersten sicher sein, dass es für mich fundamental gleichwertig ist, ob sich ihre Augen schliessen werden oder nicht, und überhaupt, ob sie meiner Anregung folgen wird oder nicht, oder ob sie vielleicht sogar etwas ganz anderes tun wird. Würde ich heimlich eine Variante auch nur ein bisschen bevorzugen, wäre es aus mit dem „konsequenten, interaktiven Explorieren“. Mich nimmt schlicht und offen wunder, wie sie reagiert.

Zu Beginn also eine ganz einfache Frage: „Sind Sie einverstanden, die Augen zu schliessen und sich körperlich bequem einzurichten?“. Einfacher geht es nicht. Und doch öffnet sich schon eine schier unüberschaubare Palette von Reaktionsmöglichkeiten. Ich erwarte ja nicht eine Zustimmung „Ja, gerne“ oder ein „Nein, danke“ von ihr, sondern eine viel umfassendere Gesamtantwort. Beispielsweise:

- Sie kann ihre Lider zufallen lassen, schon bevor ich meinen Satz beendet habe.

- Ihre Antwort kann auch sein, dass sie mir ankündigt „Ja, ich bin einverstanden“ und es nicht tut. Überraschend, interessant, und auch völlig O.K.! Sicherlich wirft diese Reaktion Fragen auf. Aber genau denen kann ich dann in den folgenden Schritten nachgehen.

- Oder sie schaut sich kurz um, wirft mir einen schnellen Kontrollblick zu, bevor sie sich hypnotisch verabschiedet.

- Sie presst die Augen angestrengt zu, als wäre sie geblendet.

- Sie hält die Augen offen und starrt mich mit zunehmend ausdrucksloserem Blick an.

- Eine nächste, nicht sehr übliche, aber schon erlebte Variante ist: Sie weigert sich kurzweg die Augen zu schliessen und rechtfertigt dies mit einem schlagenden Argument, dass sie so etwas nie tue, oder dass es auch ohne gehe.

- Und noch eine andere Überraschung: Sie kann mich flehend anblicken, als ob ich ihr nicht um Gottes Willen etwas Anderes vorschlagen könnte?

- Und ... beliebig mehr Varianten, eigentlich so viele, wie es Menschen gibt.

Dann war ja auch noch in meiner Frage die zweite Einladung: sie könne sich körperlich bequem einrichten. Auch hier bin ich natürlich gespannt, was für sie wohl heissen wird „sich bequem einrichten“ und wie ihre entsprechende Reaktion aussehen wird.

- Wird sie sich gleich genüsslich ausbreiten, als hätte sie nur darauf gewartet?

- Oder wird sie spontan ihren noch ungelenken Körper Gelenk nach Gelenk ausstrecken und beugen, um sich so allmählich aus ihrem Spannungszustand zu befreien?

- Oder verharrt sie mir gegenüber in selbstbewusster Aufrichtung, zwar mit zugekniffenen Augen, aber mit fest zusammengeschlossenen Knien, verschränkten Armen und zusammengepressten Lippen, sichtlich allzeit bereit, beim ersten falschen Wort in Sekundenschnelle die Augen wieder aufzureissen?

- Oder, oder, oder ...

Jede einzelne dieser unterschiedlichen Reaktionsmöglichkeiten erzählt mir im Grunde den Ansatz einer verborgenen Geschichte – oder sogar ganz vieler Geschichten: wie diese Reaktion entstanden ist, was sie für die Patientin jetzt bedeutet, wie sie damit lebt, usw... Geheimnisvolle Mär über diese Patientin, die ich wohl jetzt weder verstehen noch durchschauen kann, die aber meine therapeutische Neugier auffordert, sie mit ihr allmählich zu entziffern.

Mit den Reaktionen auf die erste Frage halte ich also einen ersten Zipfel der Geschichte in der Hand. Wie nun weiter explorieren? Lesen Sie im Text Nr. 5 weiter.


Zum Schluss noch, nebenbei, etwas zum Thema „Therapieplan“:


„Si tu veux faire rire Dieu, parle-lui de tes projets.“

(„Willst du Gott zum Lachen bringen, erzähle ihm von deinen Plänen“, Blaise Pascal, 1623-1662. Wird auch Woody Allen oder der jiddischen Tradition zugeschrieben... Es scheint jedenfalls zu stimmen!)



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Text 5

4. Der zweite Schritt in die Exploration ohne Ende ...


Mein Eröffnungszug, die Augen schliessen zu lassen und es sich bequem zu machen, hat aus einer breiten Palette von Möglichkeiten bei der Patientin eine bestimmte Antwort freigesetzt. Ihre Reaktion leitet einen ersten Explorationsschritt ein, doch ist dies erst ein Anfang. Nun muss es irgendwie weitergehen, was bedeutet, dass nun ich wieder an der Reihe bin für den nächsten Zug.

Für meinen nächsten Vorschlag orientiere ich mich logischerweise an der Reaktion der Patientin. Ihre mimische, gestische und verbale Antwort hat ja zwangsläufig etwas in mir ausgelöst. Es sind irgendwelche dem Sinn nach dazugehörige Phantasien oder Gefühle erwacht, oder in meinem Hirn beginnen sich erste, wenn auch vielleicht waghalsige Hypothesen zu ihrer Lebensgeschichte zusammenzuspinnen.

Erstes Beispiel einer Reaktion der Patientin: Sofortiger Augenschluss

Nehmen wir als erstes Beispiel den Fall, bei dem ich nach der Einladung, die Augen zu schliessen, meiner Patientin nur zuzuschauen brauche, wie ihre Augenlider auf der Stelle zufallen, und sie ohne zu zögern in eine Trance entschwindet – die scheinbar einfachste Reaktion. Spielen wir nun verschiedene Möglichkeiten meiner Folgereaktion durch.

Grundsätzlich könnte ich, zufrieden auf die Macht meiner Suggestivkraft schauend, meine Patientin als potentiell hochsuggestibel einstufen und der Therapie eine rosige Zukunft voraussagen. Es fände sich dann sicher ein hypnotisches Standardverfahren, das sich eignen würde, zielstrebig dem Erfolg entgegenzueilen.

Ganz anders im „konsequenten, interaktiven Explorieren“. Da halte ich mich zurück, beobachte genau, stelle fest, stelle mir Fragen. Nichts wird als „normal“ durchgewinkt. Immer spukt im Hinterkopf die Frage „Was passiert da eigentlich?“, und dies betrifft sowohl das, was in der Patientin vorgeht, wie das, was ich selber erlebe. In diesem Beispiel stelle ich fest, dass die Patientin offensichtlich keinerlei Vorbehalte gegen meine Einladung zeigt. Meine Frage also: „Weshalb ist das so?“ Die erste, durchaus rational begründete Hypothese, die sich fast aufdrängt: Sie fühlt sich durch meine Gegenwart in ihrem inneren Prozess offenbar nicht gross gestört. Diesen Erklärungsversuch können wir als eine erste Reaktionsmöglichkeit meinerseits verstehen, eine, die in erster Linie unsere Beziehungssituation ins Auge fasst.

Gleichzeitig kann aber meine Phantasie als erste Reaktionen auch frei entstehende, spontane Bilder produzieren. Beispielsweise das eines paradiesisch palmenumsäumten Karibikstrandes bei feurig-goldenem Sonnenuntergang. Vielleicht sehe ich dort sogar meine Patientin wohlig in einem Relaxliegestuhl liegen: ein wohl stimmungsvolles Bild, das als plastisches, inneres Korrelat zu ihrem äusseren Verhalten sicherlich passen könnte. Eine ganz andere Phantasie, etwas nach Gotthelfs oder Ankers beschaulichen Welten anmutend, könnte genau gleich gut passen: Ein unschuldiges Mädchen mit blonden Zöpfchen, das sich der traulichen Wärme von Grossmutters Armen hingibt und sich friedlich von ihr in den Schlaf wiegen lässt.

Was sich in Echtzeit tatsächlich in der Innenwelt meiner Patientin abspielt und was somit wirklich stimmt, von alledem kann ich natürlich nichts wissen. Aber die Bandbreite meiner Reaktionen öffnet eine ganze Auswahl an Ballonen, von denen ich theoretisch jeden beliebigen in suggestiv explorierender Weise starten kann. Mir bleibt höchstens abzuschätzen, welche von all meinen Phantasien, Gefühlen, Hypothesen am ehesten als nächstes, eine möglichst relevante Reaktion bei der Patientin hervorbringen wird. Gehen wir der Reihe nach:

- Setze ich auf den Aspekt der direkten Beziehung zu mir, also auf die Hypothese, dass ich zumindest sicher nicht störend bin, dann kann ich beispielsweise weiter explorieren mit einem: „Sie hören meine Stimme... auch mit geschlossenen Augen...von irgendwo her kommend... sie ist einfach da... Vielleicht verstehen Sie die Worte... oder Sie hören sie einfach... wie ein wohltuendes Hintergrundgeräusch... Vielleicht erinnert Sie diese Stimme... an eine andere Stimme...oder ein bestimmtes Gefühl,... das Sie kennen... oder wie eine Musik... aus der Ferne...“ usw. Auf diese Weise bleibe ich ganz dicht beim Hier und Jetzt ihres Erlebens und säe gleichzeitig Ideen, die den Fokus auf die gegenwärtige Beziehung richten. Dabei exploriere ich, wie die Patientin mich wahrnimmt. Grundsätzlich könnte ja ihre fast impulsive Reaktion eine Flucht vor der allzu nahe werdenden Beziehung bedeuten. Dann würde der schnelle Augenschluss eine Art Abkapselung widerspiegeln, in der sie sich zwar mit sich selber ganz wohl fühlt, aber gewissermassen „autistisch“, ohne meine Gegenwart einzubeziehen. Zu erwarten wäre in diesem Fall, dass sie auf meine weiteren Anregungen kaum mehr reagieren würde. Andererseits kann dasselbe Verhalten bedeuten, dass sie meine Präsenz mit grosser Leichtigkeit in ihr Wohlgefühl integriert. Dann wird sie sich dank meiner Gegenwart noch tiefer entspannen. Vielleicht wird sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln andeuten, oder es quellen unter ihren geschlossenen Lidern Tränen hervor, beides gegensätzliche Zeichen, die darauf hinweisen, dass sie sich bei mir irgendwie geschützt fühlt. Und wird sie mir nach der Hypnose überhaupt etwas erzählen wollen? All dies wird mir Hinweise zur momentanen Wesensart unserer Beziehung geben.

- Wenn ich intuitiv auf das Karibikbild tippe, um vielleicht zu erkunden, was sich bei ihr in der Tiefe eines Entspannungszustands abspielt, kann ich so fortfahren: „Wenn man sich so,... mit geschlossenen Augen... einer wohligen Entspannung ganz hingibt,... getragen wie von einem bequemen Liegestuhl... an einem wunderschönen Strand... vor sich das weite Meer... oder eine Bucht... und am Horizont taucht eine feuerrote Sonne langsam unter... in einem prächtigen, majestätischen Untergang... dann können aus der inneren Tiefe... wie Träume... unerwartete Dinge... auftauchen... wichtige... nützliche...“. Oder, trockener und direkter, kann ich mich suggestiv erkundigen: „Sind Sie jetzt vielleicht in Gedanken an einem Strand?“ Ich lasse mich überraschen, wie sie reagiert. Nun kann es sein, dass sie tatsächlich schon von selbst in einem spontanen Träumen ein inneres Strandleben führt (dann hat meine Intuition über alle Erwartung gewirkt...). Oder sie übernimmt meine Suggestion, baut sich einen herrlichen Strand auf, um sich so weiter in die Trance zu vertiefen, und dabei eine innere Geschichte entstehen zu lassen. Vielleicht landet sie ganz woanders, an einem Bergsee, hoch in den Lüften, in den Seilen eines Paragleiters hängend, oder mit Freunden musizierend, oder wo auch immer. In allen Fällen wird es sich um interessante, weiterführende Reaktionen auf meine Strandsuggestion handeln.

- Ziehe ich aber aus irgendwelchen Gründen vor, das Augenmerk auf die Vergangenheit der Patientin zu richten, um auszuloten, ob sich dort ein therapeutisch fruchtbarer Weg öffnet, dann kann mir die heimelige Emmentaler Idylle weiterhelfen: „Was gibt es Schöneres und Geborgeneres... als das Gefühl,... das wir vielleicht als Kind erlebt hatten,.. als wir in den Armen unserer Grossmutter... liebevoll und behütet... getragen und gewiegt... sicher einschlafen konnten?“ Und wie immer werde ich die Reaktion gespannt erwarten: Lässt sie sich ein, und weckt es in ihr alte Geborgenheitsgefühle? Oder versetzt sie meine Suggestion zurück in die ganz gegenteilige, eiskalte Realität ihrer einsamen Kindheit? In jedem Fall bin ich aufmerksam und offen: Alles bietet Stoff für weiteres Explorieren!

- Eine Universalvariante, immer einsetzbar – sei es weil mir nichts einfällt, weil mich keiner meiner Einfälle überzeugt, oder einfach, weil ich es passend finde – ich frage schlicht: „Sind Sie einverstanden, einfach zu beobachten, was sich in Ihnen jetzt entwickelt... neugierig sein... vielleicht eine Körperwahrnehmung, die entsteht... vielleicht ein Bild, das sich entwickelt... oder ein Gedanke... eine Erinnerung?... Vielleicht auch scheinbar nichts?... Nehmen Sie sich einfach Zeit...“ Ich suggeriere indirekt damit nur etwas, was ohnehin passieren wird: Es wird sich nämlich irgendetwas entwickeln! Man kann nicht, wenn auch nur zehn Sekunden lang, in Trance sein –oder überhaupt einen Augenblick die Aufmerksamkeit mit offenen oder geschlossenen Augen nach innen richten – ohne dass sich dabei irgendetwas entwickelt. Mit dem Bewusst-Sein schwimmen wir in einem Fluss, der nie stehen bleibt.

Spezielle Reaktionen der Patientin

Egal bei welcher meiner Varianten, die Patientin kann auf eine im ersten Moment zugegebenermassen recht irritierende Weise reagieren: Sie schreckt gleich wieder aus der Trance auf und entgegnet aufgebracht: „Ich will überhaupt niemanden hier, keine Stimme. Lassen Sie mich alleine.“ (...ist tatsächlich schon vorgekommen!), oder: „Ich brauche sicher keine Arme, die mich festhalten!“ oder: „Strand ist gar nix für mich!“. Dann kann ich als Therapeut zwar im ersten Augenblick etwas perplex dastehen, bleibe ich aber dem „konsequenten, interaktiven Explorieren“ treu, wittere ich hinter diesem Verhalten natürlich spannendes, lebensgeschichtliches Material...

Meine Suggestionen lassen bei allen Alternativen einen Prozess in Gang kommen, den ich zwar nicht voraussehen, aber mit gespannter und empathischer Neugier begleiten kann. Der eine Patient wird bloss sichtbare Anzeichen von Emotion zeigen, ein anderer wird sich spontan äussern und mir sein Erleben mitteilen. Der dritte wird keinerlei Reaktion erkennen lassen und schweigen. Auch auf Nachfragen hin ein „Nichts“. Einfach nichts, Punkt. Auch da wird wohl ein Anfänger zunächst leer schlucken. Aber eigentlich ist die Frage: Was steckt dahinter? Erlebt er nichts? Will er einfach nichts mitteilen? Aus mangelndem Vertrauen? Aus Scham? Oder bekommt er wirklich nicht mit, was in ihm abläuft? Wie ist das möglich? Oder ist es vielleicht nur, dass nicht das kommt, was er erwartet? Aber was erwartet er? Schreckt er vielleicht allein schon vor dem Gedanken zurück, überhaupt einen Körper zu haben? ...und noch viele Möglichkeiten mehr.

Und wenn die Patientin anders reagiert: Die Augen sind zugepresst

Wenn die Patientin die Augen offensichtlich verkrampft zugekniffen hat, zieht es meine Phantasien in eine andere Richtung. Hat sie womöglich Angst vor mir und ist sie in einem strammen Gehorsamsmodus sozialisiert worden (etwa „Klappe! Augen zu!!“)? Oder sind es vielleicht Asperger-Züge, die sie dazu führen, Instruktionen absolut wörtlich zu nehmen, ohne zu erfassen, dass diese in einem Kontext stehen? Oder sie trägt ganz einfach Linsen, und der Augenschluss ist sehr unangenehm...

Eine Möglichkeit, diesem Geheimnis auf den Grund zu kommen, besteht darin, ihr beispielsweise einfach das zu spiegeln, was ich sehe: „Ich sehe Ihre Augen in ziemlich angestrengter Weise geschlossen.“ Und dann warte ich auf eine klärende Reaktion ihrerseits, oder zumindest auf eine, die mir weitere Anhaltspunkte liefert. Wenn ich nichts höre und auch nach einer Weile immer noch keine Veränderung sehe, werde ich vielleicht nachhaken, ob sie etwas sagen möchte. Wenn dann immer noch nichts kommt, ist das fast beweisend, dass sie in eine Trance gesunken ist, eine zwar eigenartige, aber spannende Trance. Das Beste wird dann wohl sein, sie in diesem Zustand zu belassen und neugierig zu begleiten, wie sich die Dinge entwickeln.

Und noch ein Beispiel: Der stiere Blick

Wenn mich die Patientin fixiert, anstatt auf meinen Vorschlag einzugehen, und mich nicht aus den Augen lässt, ihr Blick dabei immer ausdrucksloser oder gar glasig, wie betäubt wird, dann brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Sie ist in Trance. In einer besonders interessanten Trance. Möglicherweise sieht sie mich sogar nicht mehr, ist also in eine Art somnambuler Welt versunken, und weilt mental an einem ganz anderen Ort, von dem ich nichts weiss. Eine andere mögliche Erklärung: Sie ist in einer extremen kommunikativen Hilflosigkeit erstarrt. In beiden Fällen reicht es, wenn ich spiegle: „Sehr gut... lassen Sie einfach die Augen so wie sie sind... den Blick, wo er ist... Sie wissen, ich bin da... und alles hier ist sicher... Sie können sich alle Zeit nehmen, sich zu orientieren, wo sie sind... wo auch immer Sie jetzt sind... spüren, welche Wahrnehmungen Sie haben... Vielleicht können Sie sich in einen wunderbaren Zustand sinken lassen... und sich immer sicherer und sicherer fühlen...“ Und wie immer warte ich gespannt auf die Reaktion... vielleicht muss ich ihr viel Zeit lassen.



Der Lebensbaum ...


Auf diese Weise ist jetzt, mit jeder einzelnen, aufeinanderfolgenden Intervention, ein Baum von Möglichkeiten am Entstehen, der neue Verzweigungen und neue Verästelungen mit immer neuen Möglichkeiten wachsen lässt, sodass sich mathematisch eine exponentiell wachsende Anzahl von Perspektiven herausbildet. Damit dieser Baum zum Blühen kommt und Früchte trägt, setzt es allerdings voraus, dass ich als Therapeut die Disziplin des „konsequenten, interaktiven Explorierens“ einhalte, indem ich gleichzeitig ein warmes, authentisches Interesse zeige, und eine unabdingbare, konstante Distanz zu mir selber aufrechterhalte, in der ich mir insbesondere verbiete, eine spezielle Antwort mehr zu erhoffen als eine andere. Ebenso muss ich in jedem Fall der Versuchung widerstehen, „recht haben“ oder Spass am „Volltreffer“ haben zu wollen. Denn nur echte, unbeeinflusste Antworten des Patienten lassen neue Verästelungen dieses Lebensbaumes knospen und eröffnen mir und ihm mehr Einsicht in sein Innenleben.

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s. auch Diskussionsbeiträge

18.06.2021 – 26.07.2021 Dipl.-Psych. Sigtraud Hopfstock

17.04.2022 Dr.med. Hans Kanitschar



Prinzipien 1Explorer 5





Text 21

Explorieren

als Haltung und Methode

in der Hypnosetherapie

Vortrag gehalten an der Jahrestagung der Milton Erickson Gesellschaft für klinische Hypnose in Bad Kissingen, 24. März 2019

Dieser Vortrag ist auch als DVD erhältlich bei Auditorium Netzwerk.

Einleitung

Wenn wir einem neuen Patienten gegenüber sitzen, der uns mit dem erwartungsvollen Wunsch nach Hypnose aufsucht, stehen wir zunächst vor einem Urwald von Fragen: Was bringt ihn dazu, Hypnose zu wollen? Woran leidet er? Wie versteht er sein Leiden? Hinterfragt er sich überhaupt? Werden wir seine Erwartungen erfüllen können? Und, und, und... Wir wissen ja noch nichts über ihn.

Die allen anderen übergeordnete Frage ist eigentlich die: „Was muss ich wissen, bevor ich – wenn überhaupt – die Hypnosebehandlung beginnen kann."

Als Antwort darauf neigen wir als ausgebildete Hypnosetherapeuten reflexartig dazu, mit der Exploration des Patienten zu beginnen. Lege artis nehmen wir Anamnese auf, erheben Befunde, ordnen alles schön ein, um eine Diagnose zu formulieren, eine saubere Therapieplanung aufzustellen und sogar eine Prognose mutmassen zu können. Dies gibt uns Sicherheit, und dann können wir gegebenenfalls die erste Hypnose starten.

Problematisch an diesem Vorgehen ist, dass es im Fall der Hypnose Informationen liefert, die uns ein unbrauchbares Bild des Patienten zeichnen.

Lassen Sie mich dies anhand einer Metapher erklären. Angenommen, ich will Ihnen eine bestimmte Person beschreiben, nennen wir sie Mister T., so kann ich dies auf zwei Arten tun.

Variante 1: Er ist um die 190 cm gross, er hat zwei Beine mit Füssen dran, ebenso zwei Arme mit Händen dran, in der Mitte einen Rumpf, usw. Mit einer solchen Beschreibung bin ich sicher, dass Sie einen Menschen vor sich sehen. Aber sie können sicher nicht erkennen, wer dieser Mister T. sein soll.

Variante 2: Ich schildere ihn so: Er blickt fast immer finster, beherrschend und unzufrieden in die Welt. Seine Stimme ist protzig, seine Mundmimik schwammig. Sein Blick ist immer ausdruckslos bis stier, und über seiner Stirn thront ein weltweit unverkennbares und schwungvoll auf die Seite gejagtes, orangefarbenes Haarhäubchen. Können Sie jetzt Mister T. erkennen?

Die erste Beschreibung beinhaltete ausschliesslich allgemeingültige, für alle Homo sapiens zutreffende, „harte“, Informationen, was das Erkennen eines Individuums völlig unmöglich machte. In der zweiten Schilderung liess ich genau diese Informationen völlig beiseite. Ich ging nur auf die „feinen“, aber für seine Individualität kennzeichnenden Details ein.

Mit der Fragestellung der herkömmlichen Exploration, die auf Diagnosestellung und Therapieplan abzielt, sammle ich nur die harten, für eine Diagnose kennzeichnenden, allgemeingültigen Daten. Dabei poliere ich aber die eigentlich wichtigen, ganz individuellen Charakteristika des jeweiligen Individuums sauber weg. Es sind aber genau diese weggelassenen, feinen Eigenschaften, die wir für unsere Arbeit mit Hypnose benötigen. Wie können wir nun zu ihnen gelangen und wo zeigen sie sich?

Es sind unscheinbare mimische Bewegungen, ein minimes und gleich wieder unterdrücktes Aufflackern einer Emotion, ein Schweigen, ein Blick, die uns auf eine Fährte zum wirklich Individuellen führen. Es sind diese diskreten Zeichen, in denen die Informationen verborgen liegen, die für unsere hypnosetherapeutische Arbeit von Bedeutung sind.

Genau bei dieser Suche setzt das „Prinzip des konsequenten, interaktiven Explorierens in Hypnose“ an.

Worum handelt es sich?

Das Prinzip des „konsequenten, interaktiven Explorierens“

Die einfachste Zusammenfassung des „Prinzips des konsequenten, interaktiven Explorierens in Hypnose“ ist folgende, ganz einfache Formel: „Alles, was ich in der Hypnose tue, nicht tue, sage oder nicht sage, dient ausschliesslich und in aller Konsequenz dem Explorieren verborgener Schätze im Patienten.“

Beginnen wir mit einer konkreten, illustrierenden Fallvignette.


Herr E.

Herr E. sucht mich auf und will Hypnosetherapie, weil er schon lange an einer Depression leide, auch nachdem schon eine andere Psychotherapie fehlgeschlagen sei. In der Praxis eines mit Hypnose arbeitenden Psychiaters nichts wirklich Ungewöhnliches. Doch stellen sich mir da natürlich die oben erwähnten Fragen.

Ich verzichte auf eine klassische Exploration, und beginne anstelle gleich mit einer begrüssenden Einladung: „Wie kann ich Ihnen dienen?“ Ich bin völlig gespannt auf seine Antwort, seine Mimik und seine sonstige Reaktion. Unbewegt beginnt er mir seine Leidensgeschichte zu erzählen, und ich höre aufmerksam zu, mit allen Sinnen offen, wie er sie schildert. Ich bin ständig auf der Lauer nach etwas Besonderem. In der Tat zeigt er bald eine verwunderliche Reaktion bei der Schilderung eines Details seiner Geschichte: Wo ich eher Tränen erwartet hätte, lächelt er, scheinbar zufrieden, leicht abwesend.

Hier hake ich mit dem aktiven Explorieren ein und überrasche ihn mit der Frage: „Wären Sie einverstanden, die Augen jetzt zu schliessen?“ Quasi aus dem Nichts. Ich weiss ja einzig, dass er von mir Hypnose erwartet. Mir geht es aber nicht im Geringsten darum, dass er seine Augen schliessen soll. Mir geht es ausschliesslich darum zu explorieren, welche Reaktion er darauf zeigen wird. Der Moment ist interessant, weil er soeben eine eigentümliche Reaktion gezeigt hat. Wird Herr E. die Augen schliessen oder nicht? Oder wird er meinen Vorschlag schlicht überhören und weiterreden? Weist er meine Einladung höflich zurück? Oder, oder, oder... Welche dieser unterschiedlichen Reaktionen auch eintrifft, sie erzählt mir in jedem Fall ein geheimnisvolles Stück der Gegenwart und der Geschichte dieses noch unbekannten Herrn E.

Er brauchte eine Weile, um sich zu entscheiden, die Augen zu schliessen. Der Augenschluss war unauffällig. Er signalisierte damit eine vorsichtige Bereitschaft, sich in meiner Gegenwart seiner momentanen Stimmung hinzugeben.

Darauf reagierte ich mit einem kurzen „Super!“. Hinter dieser Bemerkung steckten zwei Absichten: Ich wollte ihm bestätigen, dass auch mir sein Lidschluss willkommen war, und gleichzeitig war ich auch neugierig, ob und wie er darauf reagieren würde. Verstand er es als Lob, als Einmischung oder was auch immer?

Zunächst liess sich keine Reaktion beobachten. So liess ich ihm Zeit. Wartete er auf weitere Anweisungen, oder wollte er in Ruhe gelassen sein? Nach einer Weile kam mir die Idee, eine unterstützende Suggestion einzubringen: „Sind Sie einverstanden, einfach zu beobachten, was jetzt in Ihnen vorgeht, zu beobachten, was sich in Ihnen entwickelt, wenn Sie nichts tun?“ Wie immer, blieb ich gespannt, was daraus entstehen würde.

Sein Schweigen hielt an, doch bald verzerrte sich seine Mimik, zuerst unmerklich, und zaghafte Tränen glitten über seine Wangen. Immerhin war bei aller Schweigsamkeit von Herrn E. etwas gewonnen: Er vertraute mir eine Emotion an.

Ich fragte ihn, ob er mir den Grund seiner Tränen vielleicht mitteilen wollte. Es kam keine Antwort. In solchen Situationen denke ich dann für mich „Spannend!“: schon wieder eine noch unentschlüsselte Information mehr über den Patienten.

Einerseits, um meine Präsenz akustisch zu bestätigen und um meinen Respekt für sein Schweigen und für seine Emotion zu bezeugen, fragte ich ihn, ob er bereit sei, still und ganz für sich den Lauf seiner Tränen weiter zu beobachten. Er könne vielleicht beobachten wie der Tränendruck anschwellen würde, oder sich im Gegenteil mit der Zeit beruhigen. Auf diese Weise suggerierte ich ihm eine gewisse Dissoziation zu seinen Tränen. Einerseits sollte er in der Emotion bleiben und gleichzeitig eine Beobachterrolle einnehmen. Ich war gespannt, ob er dazu in der Lage sei.

Herrn E.’s Tränen fluteten mehrmals auf und ebbten wieder ab, wellenförmig, bis er nach einer Weile von sich aus die Augen öffnete und lange vor sich hin schwieg. Interessant.

Endlich teilte er sich kurz mit und berichtete, dass er keine Ahnung habe, weshalb er so geweint habe. Es sei auch gar nichts aufgetaucht, keine Bilder, keine Erinnerungen. Wiederum: Interessant! Gewissermassen „reine“ Tränen, fast vegetativ. Er fühle sich aber deutlich besser, erholt, fast ein bisschen wie gereinigt. Bis zum Schluss verblieb er noch in einem nachdenklichen Schweigen.

Kurz vor Ende der Sitzung kam mir die Idee, ihm zu sagen: „Mir kommt es vor, als hätten Sie ein schönes Stück Arbeit geleistet.“ Er verharrte in seinem Schweigen (Ich frage mich wie immer: „Was sagt dies aus?“), und nach Absprache des nächsten Termins verliess er die Praxis in gedankenvollem Zustand, aber zufrieden.

Nach dieser ersten Begegnung mit Herrn E. war in den weiteren Sitzungen nicht mehr die Rede von Depression. Wie durch ein Wunder weg. Was war in seiner Hypnose geschehen? Er blieb weiterhin emotional zurückhaltend, war jetzt aber – neu für ihn – daran interessiert zu verstehen, wie er in die Depression gerutscht war, und was er dagegen in Zukunft tun konnte.

Überlegungen

Wenn Sie einverstanden sind, wollen wir jetzt reflektieren, was dieses „Prinzip des konsequenten, interaktiven Explorierens“ alles beinhaltet.


Explorieren

„Explorieren“ heisst Erforschen, und ist somit eine bewusste, Aktivität des Therapeuten, die sich mit offenen Sinnen und völlig unvoreingenommen auf eine Suche begibt. Mit aktiv, aber abstinent eingebrachten Vorschlägen versucht es, beim Patienten Reaktionen auszulösen, und verfolgt dabei das Ziel, diese besser zu verstehen und womöglich gleich die dazugehörigen Ressourcen zu aktivieren.

Für das Explorieren ist jede Regung oder Nicht-Regung des Patienten interessant, geheimnisvoll, erforschenswert. Nichts wird als unwichtig durchgewinkt. Keine Reaktion, die nicht als Überraschung für Therapeut und Patient zu betrachten wäre: Warum gerade diese Reaktion und nicht eine andere? Was bedeutet sie? Werde ich das erfahren?

Insbesondere wenn die Reaktion auf eine Suggestion das Gegenteil der formulierten Einladung zeigt, wird es richtig therapeutisch interessant. Was steckt beispielsweise dahinter für eine spannende – vielleicht auch schreckliche – Geschichte, wenn ich ganz banal einen „safe place“ suggeriere, und der Patient gerät ... in Panik? So etwas ist doch aus therapeutischer Sicht mindestens so interessant und aussagekräftig wie wenn sich ein schön konventioneller Ruheort einstellt.

Das Explorieren versucht nicht in erster Linie zu erklären. Vor allem ist es aus mit Explorieren, wo etwas gedeutet oder in die Schachteln irgendeiner Theorie eingeordnet wird. Explorieren versucht, lebendig zu machen.

Mit meiner Neugier strebe ich auch an, den Patienten anzustecken, auch ihn auf Explorieren „umzuschalten“. In dem Masse, wie es mir gelingt, ihn wirklich mit meiner quasi kindlichen Neugier in Resonanz zu bringen, löst es in ihm eine unmerkliche Altersregression aus: Auch er taucht wieder ein bisschen in seine kindliche, unbefangene Neugier zurück. Wenn wir bedenken, dass diese Neugier sich ausgerechnet auf das Problem richtet, das er loswerden möchte, ist dies bemerkenswert. Hier liegt Änderungspotential drin.


Konsequent

Nun soll das Explorieren – wie der Name des Prinzips es verlangt – auch „konsequent“ sein. Dies lässt sich auf zwei Arten verstehen: Einerseits „konsequent“ in der Dauer, also „konsequent bis zum Letzten“, bis zur letzten Minute, oder „konsequent“ in die Tiefe, also „konsequent bis ins Letzte“, bis hinein in die kleinste Interaktion. Beides trifft zu.

– Von der ersten bis zur letzten Minute: Wenn die explorierende Aktivität und Haltung des Therapeuten der Belebung derart wichtiger Ressourcen dient, dürfen sie auch kein anderes Ende als das der Therapie kennen.

– Bis in jedes Detail: Woher wollte ich als Therapeut beurteilen, welche Erscheinung wichtiger ist als eine andere? Nur weil ich meine, etwas verstanden zu haben, bedeutet das nicht, dass ich wirklich das Richtige erkannt habe. Deshalb ist es weit sinnvoller, Schrittchen für Schrittchen, von einer Überraschung zur andern, alles mit erwartungsloser Neugier zu betrachten. Auf diese Weise entsteht eine logische Kette von Reaktionen des Patienten, die uns auf die Fährte von Unbeachtetem und Namenlosem führt, zu verborgenen Emotionen und Ressourcen.

Zurück zu Herrn E., um dies zu illustrieren.

Sie erinnern sich, in seiner Erstsitzung explorierte ich schon mit meiner ersten Frage (wie ich ihm dienen könne) eine erste Reaktion. Er ging nicht auf das Persönliche meiner Frage ein, er begann gleich zu erzählen: Interessant! Dahinter konnten verschiedenste Gründe liegen, theoretisch das ganze Spektrum von akustischen Problemen bis Autismus. Also wartete ich aufmerksam zu, bis er mir vielleicht mit einer nächsten Reaktion einen Fingerzeig geben würde, in welche Richtung ich weitersuchen soll.

Es erschien dann auch bald in seiner Schilderung die auffällige Reaktion mit Lächeln statt Tränen. Gleich ein erster Grund, dies mit einer ersten aktiven, hypnotischen Intervention zu explorieren, mit dem Vorschlag, die Augen zu schliessen. Wiederum war ich gespannt, ob und wie das wohl stattfinden würde. Wieder keine Reaktion, zunächst: Interessant. War es Opposition gegen mich, oder Schüchternheit? Oder etwas ganz Anderes? Er schloss die Augen schliesslich doch, und nun war ich weiter gespannt, was geschehen würde. Opposition war es wohl nicht, sonst hätte er anders reagiert. Und dann geschah scheinbar wieder nichts, so versuchte ich, sachte weiter zu explorieren. Wie würde er darauf reagieren, wenn ich ihn einfach einlud, nur zu beobachten, was sich in ihm entwickelt. Es gab tausend Möglichkeiten zu reagieren. Verbal wollte oder konnte er nicht reagieren und es kamen die vermuteten Tränen. Fühlte er sich durch meine Einladung ermutigt?

An diesem Punkt wäre es denkbar gewesen, ihn zu trösten, aber ausschliesslich wenn es mich wundergenommen hätte, wie er mit Trost umgeht. Ich lud ihn lieber ein, seine Tränen zu explorieren, was er auch tat.

Mit meinem Explorieren hatte ich offenbar bei diesem sehr zurückhaltenden Menschen ein Stück Vertrauen gewonnen. Auf dieser Basis konnten wir weiter in aller Sicherheit konsequent Explorieren.


Interaktiv

Das Explorieren ist nicht nur konsequent sondern auch interaktiv.

„Interaktiv“ bedeutet nicht „ununterbrochenes Pingpong von Aktionen und Reaktionen“. Es geht wohl um ein Hin und Her von Anregungen, bei dem ich aber durchaus einmal eine ganze Zeitlang völlig untätig nur beobachten und zuhören kann. Sobald mir aber ein Einfall kommt, von dem ich das Gefühl habe, er bringt mehr an Explorationspotential als wenn ich schweigen würde, kann ich ihn schon in der nächsten Sekunde als Suggestion einbringen.

Die Interaktivität entsteht also durch Verhalten oder Worte des Patienten, die über ein Resonanzphänomen im Therapeuten ein Bild, eine Idee oder einen Vorschlag aufkommen lassen, die der Therapeut dann als Suggestion einbringt. Diese soll dann im Patienten wieder eine Reaktion auslösen, die den nächsten Schritt der Exploration einleitet.

Dabei geht es nicht darum, dass eine Idee besser wäre als eine andere, oder dass eine Metapher besser wäre als eine Übung oder als eine direkte Suggestion. Entsprechend gibt es auch nicht die „beste“ Intervention: Entscheidend ist nur, dass der Therapeut in keinem Fall die explorative Haltung verrät, was auch immer er einbringt.

Suggestion

Durch das Prinzip des „konsequenten, interaktiven Explorierens in Hypnose“ wird das Verständnis des Begriffs „Suggestion“ radikal „verzaubert“. Da ist nicht mehr die Rede – wie man Suggestion üblicherweise definiert – von einer „manipulativen Beeinflussung eines Menschen, mit dem Ziel, ihn zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen“. Im Explorieren manipulieren wir nicht. Und wir haben schon gar kein bestimmtes, beabsichtigtes Verhalten im Auge, das wir im Patienten induzieren wollen.

Die Suggestion wird zu einer impliziten Frage an das Unbewusste des Patienten. Diese heisst: „Wie reagierst du (Unbewusstes), wenn ich dir dies oder jenes vorschlage?“ Und ich bin einfach gespannt auf die Antwort. Denn egal welche Reaktion sich zeigt, sie erzählt mir etwas, und enthüllt zudem vielleicht auch schon etwas von seinen verborgenen Ressourcen.

Wirkungen

Hier nur einige wenige Wirkungen der explorativen Haltung.


1. Aktivierung von Ressourcen

Wie wir bei Herrn E. sahen, genügte ein beruhigendes, unvoreingenommenes und unterstützendes Beobachten und Explorieren, um eine genauestens justierte Ressource zu seinen Tränen zu aktivieren. Sie erlaubte ihm, die Fähigkeit zu finden, diese zu betrachten, sie auszuhalten und daraus neue Verhaltensweisen zu entwickeln. Viel wirksamer als wenn wir ihn nach seinen bekannten Ressourcen – Urlaub, Hobby, Kampfsport etc. – gefragt hätten.


2. Neugier erlöst aus der Opferhaltung

Im Leiden erlebt man sich als Patient fast definitionsgemäss als Opfer seiner Krankheit. Opfer sein ist mit einem Erleben und einer Haltung von Passivität verbunden. Gegenteil dieser Opferposition ist die Gestalterposition.

Sobald ein Patient folglich beginnt, die eigenen Symptome zu explorieren, sich für sie zu interessieren, verlässt er die Opferposition und „switcht“ in eine Beobachterposition. Diese wiederum ist die Vorstufe und Voraussetzung für die aktive Gestalterposition.

Explorieren ist für den Einstieg in eine therapeutische Veränderung also ein entscheidender Schritt.


3. Ein Blick in die Ethologie: Neugier beruhigt und fördert Entwicklung

Ethologisch gesehen – also das gesamte Tierreich überspannend – sind die Suchverhalten, oder „seeking behaviours“, Verhalten mit beruhigender Wirkung. Sie dienen also nicht nur der Orientierung, Futtersuche, Fortpflanzung, etc. sondern auch der Beruhigung und sie fördern Entwicklung. Im Gegensatz zu ihnen sind die „survival behaviours“ wie Flucht, Angriff, Angst, immer mit Stress korreliert und verlaufen stereotyp. Sie neigen zudem zur Fixierung und können so zur Krankheit werden.

Mit andern Worten, wenn unsere Zugehörigkeit zur Gattung „Homo sapiens“ uns als Mitglieder des Tierreichs kennzeichnet, muss das auch bei uns so funktionieren. Explorieren ist also auch für uns ein beruhigendes, entwicklungsförderndes und kranken Fixierungen entgegenwirkendes Verhalten.


4. Erkannt und anerkannt werden

Eines der tiefsten Anliegen der menschlichen Seele ist, erkannt und anerkannt zu werden. Erkannt und anerkannt werden oder nicht entscheidet in der Kindheit nicht selten über eine gesunde oder krankhafte Entwicklung. Erkannt und anerkannt werden bleibt lebenslänglich ein bedeutender Wachstums- und Entwicklungsfaktor.

Um einen Menschen erkennen zu können, muss man sich für ihn interessieren, ihn suchen gehen, explorieren. Wenn wir das Erkannte dann nicht nur erkennen sondern auch als das anerkennen, was es ist, dann wirkt das als seelischer „Dünger“.

Für einen leidenden Menschen ist es von fundamentaler Bedeutung, dass das im aktuellen Symptom dahinter liegende, ursprünglich völlig legitime Anliegen von jemand erkannt und anerkannt wird, um es dann selber erkennen und anerkennen zu können. Dazu ist das „konsequente, interaktive Explorieren“ der goldene Weg.

Vorzüge

Gegenüber üblichen, leitliniengerechten, symptom- oder krankheitsbildorientierten hypnotherapeutischen Vorgehensweisen weist das „konsequente, interaktive Explorieren“ zahlreiche Vorteile auf. Hier nur zwei davon.


1. Es ist die respektvollste Haltung dem Patienten gegenüber

Durch das Explorieren setze ich mich auf Augenhöhe mit dem Patienten. Wir suchen zusammen. Die einzige Asymmetrie, die zwischen ihm und mir bleibt, besteht darin, dass ich zu seinem Schutz da bin, er aber nicht zu meinem.


2. Eine Bürde fällt ab, für beide ...

Durch das Explorieren geht sowohl für den Therapeuten wie für den Patienten ein wichtiger Druck verloren. Über der Arbeit schwebt kein Erfolgsdruck mehr. Der Therapeut muss sich nicht mehr um die Frage nach der richtigen hypnotischen Intervention kümmern. Er überlässt den Kompass des Therapieverlaufs dem Unbewussten des Patienten. Wer wüsste es besser?

Auch der Patient muss sich nicht mehr bemühen, möglichst „gut“ auf die Suggestionen des Therapeuten zu reagieren, in der Erwartung, dass die Hypnose erst dann gut wirken kann. Ebenso werden die Ängste um die Themen Manipulation, Kontrollverlust oder Persönlichkeitsveränderung durch das Erleben der Exploration hinfällig.


3. Ko-Kreation

Die Arbeit mit Hypnose wird zu einer spannenden, ständig neu entstehenden Ko-Kreation zwischen und in beiden. Jeder stellt darin sein spezielles, unterschiedliches Wissen zur Verfügung: der Therapeut seine Erfahrung, der Patient sein Erleben und seine Geschichte.

Voraussetzungen

Ohne bestimmte Voraussetzungen lässt sich nicht therapeutisch Explorieren.

Abstinenz

Ohne eine abstinente, sprich selbstlos in den Dienst des Patienten gestellte Haltung des Therapeuten, ist das Explorieren undenkbar. Er würde ja sonst nach Dingen forschen, die er sich wünscht, und ginge dadurch mit grosser Gewissheit am Patienten vorbei.

Aushalten

Als explorierende Hypnosetherapeuten müssen wir natürlich unsere eigenen Emotionen und Unsicherheiten, und damit unsere Grenzen aushalten können. Aber auch die Grenzen der Machbarkeit müssen wir aushalten. Wo die Kapazität der Ressourcen des Patienten seine Veränderungsmöglichkeiten beschränken, müssen wir das mit ihm aushalten können.

Vertrauen

Vertrauen ist in jeder Therapie eine zentrale Vorbedingung: in uns selber, in eine grundsätzliche Resilienz des Patienten, in die Tatsache, dass Hypnose gesunde Abwehren nicht vernichtet, sondern nur soweit öffnet, dass Emotionen sich entwickeln können, in die Gewissheit, dass jahrelang im Unbewussten verborgene Ängste, Verletzungen per se letztlich bisher ausgehalten wurden. Ohne diese Vertrauenshaltung wäre Hypnose überhaupt nicht zu verantworten.

Neugier

Es war schon viel die Rede von Neugier. Neugier ist eine fundamentale Lebensenergie, die untrennbar mit Wachstum verbunden und dafür auch unentbehrlich ist. Vergegenwärtigen wir uns dazu nur kurz das erobernde Herumkrabbeln eines Kleinkinds. Die Neugier des Therapeuten ist Voraussetzung dafür, dass der Patient die seine entwickeln kann, wo sie fehlt.

Übrigens sind diese vier Voraussetzungen, um konsequent, interaktiv explorieren zu können, also Abstinenz, Aushalten, Vertrauen und Neugier selber essentielle Ressourcen, die der Therapeut durch seine Haltung im Patienten in Resonanz bringen kann, und die in fast allen Situationen helfen, Lösungen zu finden.

Zulassen von Nähe

Würden wir aus einer antiquierten oder verqueren Vorstellung von Abstinenz heraus, oder auch aus persönlichen Gründen, menschliche Nähe mit dem Patienten befürchten, würde das Explorieren schwierig. Die hypnotische Beziehung besteht nämlich aus einer ganz besonders intensiven Intimität, die selber zentraler Wirkfaktor der Hypnose ist, und die ich gerne als „therapeutischen Brutkasten“ bezeichne. Explorieren muss in dieser Wärmeatmosphäre geschehen.

Fassen wir zusammen

Das „konsequente, interaktive Explorieren in Hypnose“ ist eine aktive therapeutische Haltung, eine liebevolle Form von Neugier, die ständig auf irgendwelche Art fragend, suchend, provozierend, kitzelnd, reagierend, aushaltend, mitfühlend, betrachtend, aber ohne je irgendetwas bestimmen zu wollen, nach dem Innersten des Patienten sucht. Alles geschieht mit der Absicht, den Patienten auf respektvolle Weise einzuladen, sich selber in Frage zu stellen, damit sich für ihn neue Türen zu seinen Ressourcen öffnen können.

Das „konsequente, interaktive Explorieren in Hypnose“ sieht wohl aus wie eine therapeutische Planlosigkeit – und das ist es in einem gewissen Sinn auch. Aber es ist selbst Plan der Therapie: immer der Spur des Patienten zu folgen...

Wollen wir den gesamten Geist des „konsequenten, interaktiven Explorierens in Hypnose“ in eine möglichst kurze Formel, in ein kleines Wörterpaar zusammenfassen, so ist das: „Ah? Spannend!“. „Ah?“ heisst: Da lässt sich etwas hinterfragen, da ist etwas nicht unbedingt selbstverständlich, da wollen wir doch kurz innehalten... „Spannend!“ heisst: Dahinter müssen irgendwelche interessanten Hintergründe warten. Mit „Ah! Spannend!“ würdigen wir noch Unverstandenes, und laden gleichzeitig zum Entdecken und Verändern ein.

Nun bin ich mit meinen Ausführungen zu Ende, und bin... gespannt auf Ihre Reaktionen.