Fünf Finger



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Text 10

„Die Fünf Finger-Methode“

Haben Sie sich auch schon gefragt, weshalb der Mensch an einer Hand fünf Finger zählt? Sicher nicht eine Frage, die sich jeder Mensch stellt. Hier erfahren Sie die Antwort darauf. Und diese Antwort hat das Potential, vielen Patienten zu helfen, sich im Leben wesentlich besser zu orientieren. Sogar Ihr eigenes Leben als Privatperson, als Therapeut, und auch Ihre Arbeitsweise könnte sich verändern...


Lesen Sie zuerst, was darüber vor über 2500 Jahren geschrieben wurde:

„Einst rief König Nebukadnezar der Grosse1 seine vertrautesten Berater zusammen und wollte von ihnen wissen: „Sagt, weshalb hat der Mensch fünf Finger an einer Hand?“. “Mächtiger König,“ antwortete sofort der erste mit rätselhafter Miene, „es ist ein Geheimnis der Götter, und darauf wird kein Mensch die Antwort finden können.“ Der zweite entgegnete schmeichelnd: „Allgewaltiger Herr, vier von den fünf Fingern an Deiner Hand stellen die vier Reiche dar, die Du erobert hast, und der mächtigste Finger, der Daumen, das bist Du!“ Der dritte, ein Priester, mahnte zu Bescheidenheit: „Edler Herrscher, fünf ist eine heilige Zahl: Vier Finger stellen die vier Himmelsrichtungen und die vier Elemente dar. Der fünfte weist zum Himmel, wo die Götter herrschen, und nicht Du.“ Der vierte Weise riet dem König: „Fünfblättrig ist die Rose, die Blüte der Liebe, und so hat auch deine mächtige Hand fünf Finger, damit du dein Königreich immer mit Liebe regierst.“ Endlich sprach der fünfte: „Grosser Herr, o starker König! Jeder Mensch zählt an seiner Hand fünf Finger, so auch Du. In ihnen liegt eine Weisheit verborgen, ohne die dein Reich bald untergehen wird. Deine fünf Finger erinnern dich jederzeit, dass Du vor jeder Entscheidung, die Du triffst, vorher mindestens fünf Möglichkeiten prüfen sollst. Auch bevor Du Dir über irgendeine Angelegenheit dieser Welt eine Meinung bildest, zähle an Deinen Fingern mindestens fünf mögliche Erklärungen.“ König Nebukadnezar erkannte gleich die Tiefe dieser Weisheit, ernannte den fünften zu seinem obersten Ratgeber und überhäufte ihn mit Ehren.“

Nun, was hat diese Geschichte mit unseren Patienten zu tun?

Es war wohl nicht schwierig zu erraten: Die fünf Finger, auch an der Hand unserer Patienten, stehen zur Verfügung, um in schwierigen Situationen die Mindestanzahl an Möglichkeiten, Erklärungen, Ansichten, Entscheidungen, Optionen, Hypothesen, Varianten, Perspektiven bequem und einfach abzählen und sogar sichtbar machen zu können. Man muss sie nur brauchen.

Wie oft versucht man, sich das Leben einfacher zu machen, indem man sich irritierenden Situationen gegenüber – seien es ernsthafte Probleme oder nur kleine Dinge des Alltags – kurzerhand mit der erst besten Interpretation zufriedengibt. Diese ist in der Regel längst vertraut, sehr einfach und meist mehr oder weniger universell einsetzbar. Typischerweise beginnen solche Erklärungen mit: „Ich weiss ja...“, „Das ist nur, weil...“, oder „Ich müsste einfach...“. Man sieht dann den Fall entsprechend gelöst, und zugegeben, oft kommt man auch so durch. Nicht selten aber wird sich das Problem erfahrungsgemäss durch solche „einfachen“ Antworten nur verschlimmern, weil die Spur falsch gelegt ist. Genau da braucht es dann die „fünffachen“ Antworten unserer Finger, um sich zu befreien.

Eigentlich ist die „Fünf-Finger-Methode“ nichts anderes als eine Universalversion der altbekannten „Differentialdiagnose“ der Mediziner. Was in der Heilkunst so grosse Bedeutung hat, kann auch in der Lebenskunst einen Platz finden. Mit der „Fünf-Finger-Methode“ haben wir eine handfest fassbare Anwendungsmöglichkeit, bereit für alle Situationen des Alltags, und insbesondere ein spannendes Instrument für die Psychotherapie.


Wie sieht die Anwendung konkret aus?

Als Therapeut liegt es an mir, ständig auf der Lauer zu sein, ob sich beim Patienten eine solche „einfache“ Lösung eingeschlichen hat. Posaunt mir ein Patient zu einem therapeutisch relevanten Thema seine unumstösslich klare Meinung vor: „Ich weiss ja, dass...“– und es ist eine Auffassung, von der ich für mich denke, es könnten sicher auch andere Gesichtspunkte in Frage kommen – dann gebe ich meinem zweifelnden Gefühl Ausdruck, indem ich, zunächst stumm, ihm den erhobenen Daumen meiner linken Hand entgegenstrecke, ähnlich wie zu einem „like“-Zeichen. Zur Erklärung ergänze ich, ziemlich trocken: „Jawohl, das ist Hypothese Nummer eins.“ und warte einen kurzen Augenblick auf seine Reaktion.

Meist schaut mich der Patient das erste Mal etwas verdutzt, hilflos an. Dann erkläre ich weiter, dass uns der liebe Gott (hier nicht als theologisches Disputthema gedacht) fünf Finger an die Hand geschenkt hat, damit wir uns zu jedem Phänomen des Lebens mindestens fünf Hypothesen suchen sollen, bevor wir uns für die eine oder andere Variante entscheiden oder festlegen (Für besondere Fälle hat er uns auch mit einer zweiten Hand und zehn Zehen versehen). Gleichzeitig schnellt mein Zeigefinger erwartungsvoll neben dem Daumen hoch, und ich frage den Patienten, was es wohl für eine zweite mögliche Hypothese geben könnte. Und warte gespannt.

Manche Patienten reagieren prompt mit einer zweiten Variante, aber je nach dem versucht auch einer auszuweichen, er habe keine Ahnung, ihm komme nichts in den Sinn, er habe schon alles ausprobiert.... Ich bleibe fest: „Nehmen Sie sich Zeit.“ Nach ein bisschen Insistieren kommt immer etwas... „Wunderbar! Genau!“ Als sichtbares Zeichen der Anerkennung richtet sich jetzt sofort, ebenso erwartungsvoll wie vorhin der Zeigefinger, mein Mittelfinger auf: „Und jetzt, eine dritte Hypothese?“ Und so geht es weiter bis zum kleinen Finger.


Spezielles

– Irgendwann, bevor wir beim kleinen Finger angelangt sind, kann es vorkommen, dass sich der Patient wirklich überfordert zeigt, und das müssen wir natürlich respektieren. Dann gibt es verschiedene Wege um weiterzumachen. Meist bringt es ein bisschen Humor. Ich kann beispielsweise den Patienten ermuntern, irgendeine völlig absurde Alternative zu ersinnen. Oder beiepielsweise: „Was würde ihr Kind (oder sonst jemand) für eine These bringen?“, oder sonst etwas Kreatives.

– Gelegentlich kann auch ich als Therapeut eine Hypothese einbringen. Frühestens aber beim Ringfinger. Ich muss mich mit der Formulierung vorsichtig zurückhalten, damit mein Vorschlag nicht als „die Lösung“ hinüberkommt, sondern nur als Anstoss für die weitere Exploration dient: Was macht jetzt der Patient aus meinem Vorschlag? (s.a. „Prinzipien 1 Explorer“). Aus diesem Grund versuche ich meist vor einem ernsten Vorschlag eine erste, ziemlich absurde aber erheiternde Hypothese vorzubringen, um in dieser Hinsicht etwas innere Distanz und Lockerheit zu schaffen.

– Geübteren Fingerzählern kann man es oft überlassen, sich zuhause Zeit zu nehmen, um die Varianten 4 und 5 zu finden.

– Häufig setze ich als Psychotherapeut die „Fünf-Finger-Methode“ schon in der ersten Sitzung ein, nämlich gleich nachdem der Patient mir sein Problem fertig geschildert hat. Meist frage ich zuerst, was seine ganz persönliche Hypothese dazu sei, wie und woher, weshalb dieses Problem entstanden sei, und betone, dass seine Erklärung weder wissenschaftlich richtig noch die definitive Wahrheit sein muss. Jeder Patient hat ja so seine eigenen Gedanken zu seinen Problemen. Sobald er mir seine Theorie dargelegt hat, schnellt mein Daumen hoch, und ich sage anerkennend: „Ja, das ist sicher eine überzeugende Möglichkeit.“ Und schon steht auch mein Zeigefinger daneben mit der begleitenden Frage: „Denken Sie, dass es auch andere Hypothesen geben könnte, die mitspielen?“. Und dann folgen natürlich der Mittelfinger, der Ringfinger und der kleine Finger. Noch nie hat mir ein Patient dieses Spiel übel genommen, im Gegenteil.

Anwendungsbeispiele ...

... bringe ich jetzt absichtlich noch nicht in diesem Text. Darf ich es Ihnen überlassen, es mit sich selber zuerst einmal auszuprobieren? Sollten Sie Schwierigkeiten begegnen, so kann ich Ihnen gerne in einem späteren Text mit Beispielen weiterhelfen.


Dafür ein paar Rätsel zum Spielen ...

Finde fünf Möglichkeiten ... und lass den Mut nicht sinken, bevor du wirklich fünf gefunden hast!

1. Ein Patient erscheint nicht zur Sitzung. Wo steckt er? : 1... 2... 3... 4... 5...

2. Auf Ihre Einladung hin schliesst ein Patient die Augen nicht. Wo ist das Problem? : 1... 2... 3... 4... 5...

3. Sie beobachten Tränen in den Augen Ihres Patienten, während Sie ihm einen „safe-place“ suggerieren. Welche Emotionen kommen in Frage? : 1... 2... 3... 4... 5...

4. In der 3D-Übung wünscht sich der Patient rechts neben sich „nichts“. Was könnte gemeint sein? : 1... 2... 3... 4... 5...

5. Ein männlicher Patient erzählt Ihnen, dass er von seiner Frau geschlagen wird. Wie könnten solche Situationen entstehen? : 1... 2... 3... 4... 5...

6. Sie spüren selber eine Hemmung, mit einem Patienten Hypnose zu machen. Woran liegt es? : 1... 2... 3... 4... 5...

7. Sie kriegen ein anonymes Telefon. Wer? Weshalb? : 1... 2... 3... 4... 5...

8. Sie frieren im Zimmer und der Heizkörper ist kalt. Ursache? : 1... 2... 3... 4... 5...

9. Ihr Dorfmetzger hat im besten Alter seinen Laden geschlossen. Was könnte dahinter sein? : 1... 2... 3... 4... 5...

10. Ein Zug der Deutschen Bahn kommt rechtzeitig an. Was ist geschehen? : 1... 2... 3... 4... 5...

11. ...


P.S.

Auch auf die Frage selbst, weshalb eine Hand fünf Finger zählt, gibt es vielleicht nicht nur die eine Erklärung, die wir jetzt besprochen haben. Höchstwahrscheinlich noch vier weitere...



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1 König von Babylonien (640-562. v. Chr.). Die historische Wahrheit dieser Geschichte ist nur sehr mangelhaft belegt...


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s. Diskussionsbeitrag vom 28.07.2018, Dr.med. Christoph Weidmann (Home -> Diskussion)