Wann ist Hypnose indiziert?



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Hypnose indiziert?


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Wann ist Hypnose indiziert?

Hypnose und ihr Leid mit den Diagnosen

Ein wirksames Heilmittel oder Heilverfahren soll grundsätzlich nicht ohne eine seriöse Indikation angewandt werden. Das Fundament dazu muss eine ebenso seriöse Diagnose bzw. eine verlässliche Diagnostik liefern. Dieses Postulat gilt natürlich auch für die Hypnose.

Aber gerade im Fall der Hypnose ist das Einhalten dieses Gebots in der üblichen Denkart gar nicht so einfach. Dieser Text will aufzeigen, wo die Knacknüsse liegen, aber auch eine Sichtweise darlegen, wie sich für dieses Thema doch ein überraschender und eleganter Ausweg auftut ...


Die klassischen „Diagnosen“, die keine sind

Erster Stolperstein: das Stellen einer Diagnose. Damit eine Diagnose (griech.: Unterscheidung, Entscheidung) ihren Namen verdient – ich meine damit, dass sie nützlich und richtungsweisend für eine Behandlung ist – muss sie in erster Linie eine einheitliche Ätiologie mit einem definierten Syndrom verbinden. Erst diese Kombination ermöglicht dann das Abschätzen einer Prognose und einer Behandlung – zwei Begriffe, die mit dem der Diagnose untrennbar verbunden sind. Zudem sollte eine Diagnose den Anspruch einer maximalen Objektivität erfüllen.

Was in der somatischen Medizin in der Regel keine nennenswerten Probleme bereitet (eine Lungenentzündung ist eine Lungenentzündung, und ein Beinbruch ist ein Beinbruch...), wird aber in den Bereichen, wo die Psyche mitspielt, sehr heikel. Hier spielen Faktoren der Erlebniswelt eine letztlich viel bedeutendere Rolle als objektive Fakten. Gerade in der Psychiatrie wird gerne und ziemlich leichtfertig mit ICD- und DSM-Nummern (bzw. deren Benennungen von Krankheiten) als „Diagnosen“ gehandelt. Man spricht von „depressiver Episode“, von „Zwangsstörung“, „Persönlichkeitsstörung“, „Angststörung“ und vielen mehr, als handelte es sich um Diagnosen. Genau genommen erfüllen sie aber im medizinischen Sinn die Kriterien einer Diagnose in keiner Weise.

Ganz summarisch am Beispiel der „Diagnose“ Depression erläutert:

  • Es fehlt ihr jegliche einheitliche Ätiologie: Mögliche Ursachen für depressive Zustände reichen von Überlastungs- und Überforderungssituationen über angeborene Vulnerabilitäten, über hormonelle Ungleichgewichte, zu jahreszeitlichen Einflüssen, zu postinfektiösen Zuständen und posttraumatischen Belastungssituationen... um nur diese zu nennen.
  • Auch die Forderung nach einem Syndrom wird nicht erfüllt: Die verschiedenen Krankheitszeichen sind nicht voneinander getrennte Symptome, die gleichzeitig und regelmässig zusammen auftreten. So beschreiben beispielweise „Antriebslosigkeit“, „gedrückte Stimmung“, „Lustlosigkeit“ in etwa dasselbe, nur in unterschiedlicher Gewichtung und mit unterschiedlicher Färbung.
  • Schliesslich lässt sich auch über den Verlauf einer unbehandelten Depression ebenso wenig voraussagen wie über die Regeln der Kunst der „richtigen Behandlung“.

Sicher mögen diese Bezeichnungen und Nummern für manche nicht-medizinischen Zwecke ihre Berechtigung haben (Kommunikation mit Versicherungen, Erstellen von Statistiken...). Als Handlungsanweisung für irgendwelche Behandlungen taugen sie aber nicht. Ja sie täuschen manchmal sogar vor, es liessen sich aus ihren Namen Indikationen ableiten: „Antidepressivum“ säuselt etwas ins Ohr hinein wie: „Diagnose Depression? Aha, also Antidepressivum ...“

Leider erweisen sich ICD oder DSM, die gängigen Klassifikationssysteme, für eine Indikationsstellung in der Hypnosetherapie als untaugliches Instrument: Sie liefern keine für uns brauchbaren Handlungsanweisungen.


Vielleicht andere diagnostische Systeme?

Den psychoanalytisch und tiefenpsychologisch arbeitenden Psychotherapeuten steht beispielsweise die OPD (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik) zur Verfügung. Diese untersucht unter anderem Themen wie Beziehungsdynamik, unbewusste Konflikte, Strukturniveau, Bewältigungsstrategien, Abwehrmechanismen usw. um daraus ein Gesamtbild zu konstruieren, welches dann die Richtung ihrer Arbeit weisen soll.

Daneben versuchen verhaltenstherapeutisch orientierte Diagnostiksysteme die sich darstellende Symptomatik einzuordnen, dafür eine Erklärung zur Genese aufzustellen, Problem- und Zielbereiche zu definieren, Interventionsstrategien zu ersinnen und einen Entwicklungsverlauf vorherzusagen.

Alle Arten von Diagnostik setzen in der Regel strukturierte Interviews und Fragebögen ein, nutzen Krankenakten, und führen je nach dem auch Tests durch. Für die Anwendung in der Hypnosetherapie aber bergen solche Formen von Diagnostik eine Reihe von Denkfehlern in sich:

  1. Auf diese Weise gestellte „Diagnosen“ zeigen uns nicht auf, ob und auf welche Weise gerade die Hypnose angezeigt sein soll oder nicht. Ihre Frage- und Antwortspiele sind ja von vornherein tiefenpsychologisch bzw. verhaltenstherapeutisch fokussiert und orientieren sich nicht an Themen der Hypnose. Zudem fundieren sie sich auf bewusste Aussagen der Patienten über sich und auf objektivierbare Beobachtungen von aussen. Hypnose aber lebt von unbewusst geprägtem Erlebnis und gehört somit der Subjektivität an. Wer will uns auch sagen, dass Hypnose nur bei bestimmten tiefenpsychologischen Konstellationen oder nur bei bestimmten Verhaltensmustern anwendbar sein soll? Oder: Braucht es bestimmte Beziehungsdynamiken, Bewältigungsstrategien, Abwehrmechanismen, Erklärungen über die Genese der Probleme, um den Einsatz von Hypnose zu rechtfertigen? Wohl kaum.
  2. Zweiter Denkfehler: Hypnose ist nicht ein Eingriff – keine Medikation und keine Operation – sondern eine besondere Form von Kommunikation. Eine heilsame Kommunikation, die gleichzeitig auch eine aussergewöhnliche Form von Beziehung impliziert. So gesehen müsste also eine sinnvolle Diagnostik evaluieren können, wann für diese spezifische Form von Beziehung und Kommunikation die Indikation gegeben wäre. In der Theorie sicher eine interessante Frage. Die Dinge lassen sich aber klarer verdeutlichen, wenn wir die Frage umgekehrt stellen: Wann soll man diese „Heilkommunikation“ nicht anwenden? Und dann sind wir schnell bei den Unzulänglichkeiten der Therapeuten angelangt... nicht aber bei den „Diagnosen“ der Patienten!
  3. Dritter Denkfehler, immerhin nur ein halber Denkfehler: Wenn wir mit unseren hypnotischen Interventionen die Patienten wie Lotsen steuern ¬(sprich manipulieren) könnten oder wollten, dann wäre richtigerweise wichtig, genau abzuschätzen, in welche Richtung dies geschehen soll. Dann wäre auch eine vorherige Diagnosestellung unentbehrlich. Da aber letztlich Hypnose immer eine Exploration des Patienten bleibt (s. Texte zu „Explorer“), in der wir uns als Therapeuten konsequent vom Unbewussten des Patienten leiten lassen, so ist es unmöglich, die Richtung, in der sich die Dinge bewegen werden, vorauszusagen. So erweist sich unsere Lotsenphantasie von vornherein als illusorisch. Und zudem wäre sie nicht therapeutisch.


Die wirklichen Indikationen für Hypnose

Die Entscheidung, ob in einer gegebenen Situation Hypnose einzusetzen sinnvoll ist oder nicht, wird auf ganz anderen Ebenen gefällt. Hier die Fragen, die am ehesten wegweisend sind:

  • Ist schon genügend Vertrauen vorhanden (gegenseitig ...)? Fühlt sich der Patient mit mir sicher genug (und gegenseitig ...)?
  • Bringt erleben lassen in der jetzigen Situation mehr als diskutieren? Besprechen im normalen Wachzustand bringt eine ganz andere inhaltliche Qualität, näher beim Intellektuellen, als das Erleben in Hypnose. Welcher Modus ist also jeweils angezeigt?
  • Fühle ich mich als Therapeut kompetent, dieses Thema mit diesem Patienten psychotherapeutisch anzugehen, und bin ich dem gewachsen?
  • Ist der Patient einverstanden, in dieser Situation die „Normalität“ des Wachzustands zu verlassen und sich auf neue Wege zu begeben? Zum Beispiel wird beim Verlust einer nahestehenden Person wohl das erste Bedürfnis sein, sich darüber einfach „normal“ aussprechen zu können, und wichtiger als eine sofortige Veränderung des Erlebens über Hypnose zu erwirken.


Zusammenfassend: Die schlechte und viele gute Nachrichten

Pech gewesen mit den Diagnosen, die uns erlaubt hätten, unsere Behandlungen in gewohnter Weise auf einer sauberen Diagnostik abzustützen! Aber nirgendwo lässt sich eine „Hypnosediagnostik“ finden, und damit fallen für uns auch die einfachen „Kochrezepte“ weg ...

Dafür aber eine Reihe guter Nachrichten:

  • Wir müssen umdenken. Das ist immer gesund, und ist erst noch hypnotisch ...
  • Als Exploration liefert die Hypnose eine laufend sich erweiternde und sich vertiefende Kenntnis des Patienten, die viel weiter geht als jede Diagnose. Sie steuert direkt auf das seelische Erleben zu und stützt sich nicht auf aufgearbeitetes Material.
  • Diese Art von Erkennen bringt im Unterschied zur üblichen Diagnosestellung nicht nur dem Therapeuten für die Planung seiner Interventionen Nutzen. Auch der Patient selber nimmt direkt an diesem Erkenntnisprozess Teil und profitiert unmittelbar davon.
  • So gesehen ist Hypnose Diagnostik und Therapie zugleich. Wo sonst kriegen wir beides auf demselben Tablett serviert?


In anderen Situationen als der psychotherapeutischen?

Unsere bisherigen Betrachtungen bewegten sich vor dem impliziten Hintergrund des psychotherapeutischen Rahmens. Wie aber steht es beispielsweise in der Anästhesie oder in der Schmerztherapie?

In diesen, nicht primär psychotherapeutischen Bereichen ist ja die Indikation durch nicht-psychiatrische Umstände gegeben – durch die bevorstehende Operation oder durch die Schmerzen – und so stellt sich nicht die Frage einer Diagnose oder einer anderen Indikation, sondern die einer ev. psychiatrischen Kontraindikation.

Also sind es auch hier letztlich nicht Diagnosen des Patienten, welche die Entscheidung begründen, ob Hypnose oder nicht, sondern dieselben Fragen zum gegenseitigen Vertrauen, zur Kompetenz des Therapeuten usw., also die „wirkliche“ Indikation der Hypnose.


Was wird in den nächsten Texten unter „Indikationen“ verstanden?

Es mag verwundern, dass das Thema der Indikationen in einem einzigen Text und mit einem Streich abgehandelt und im Wesentlichen auf die Beziehungsebene heruntergebrochen wurde. Somit könnte ja das Thema erledigt sein. Was sollen dann die weiteren Texte zu diesem Thema?

In der Kategorie „Indikationen“ werde ich natürlich noch mehr Texte schreiben. Dabei wird der Begriff „Indikation“ in einem etwas anderen, weiter gefassten Sinn verstanden. Ich werde in breit gefassten Themenbereichen wie „Schlaf“, „Magen-Darm-Beschwerden“, „Schmerz“, „Trauma“ usw., konkrete Fallbeispiele oder typische Interventionen beschreiben. Derselbe hypnosetherapeutische Ansatz kann dann durchaus bei verschiedenen Themen auftauchen. Erwarten Sie also nicht „Indikationen“ als spezifische Handlungsanweisungen bei spezifischen Symptomen oder Diagnosen.